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Event

Was über uns im Duden steht

Michi Bundscherer
2. November 2025
Klimakleber, Mocktail, Wech­sel­un­ter­richt: Neue Wörter im Duden erzählen von Krisen, Debatten oder Alltags­­routinen. Beim Vortrag in der LMU zeigte Dr. Kunkel-Razum, lang­jährige Leiterin der Duden­­re­daktion, in kurz­­weiligen Geschichten, was zwischen den Zeilen des gelben Buchs über unsere Gegenwart steht.

»Das ist ja wohl völlig klar, dass dieses Wörter­buch nicht voll­ständig war.« Dr. Kathrin Kunkel-Razum hält einen Nach­druck des schmalen »Ur­duden« von 1880 in die Höhe. Auf dem Titelblatt steht »voll­­ständig«. Sie lächelt. »Das Biblio­­­gra­phische Institut hatte schon damals Sinn für Marketing.«

Es ist ein Donners­tagabend an der LMU München. Eingeladen hat die tgm – freund­li­cherweise zu Gast in den histo­rischen Räumen der Universität. Dr. Kunkel-Razum, lang­jährige Leiterin der Duden­re­daktion, spricht über das Wörterbuch, das mehr über uns verrät, als man beim Nach­schla­gen ahnt. Über Sprache, die sich ständig verändert, und über ein Buch, das versucht, damit Schritt zu halten.

Voll­ständig, erklärt sie, könne ein Wörter­buch einer lebenden Sprache niemals sein. Denn Sprache ist kein geschlossenes System – sie verändert sich, Tag für Tag.

Beob­achten statt vorschreiben

»Fast alle Entschei­dungen der Duden­re­daktion resul­tieren tatsächlich aus der Sprach­be­ob­achtung«, betont Kunkel-Razum. Der Duden legt also nicht fest, wie man schreiben soll – er beschreibt lediglich, wie tatsächlich geschrieben wird.

Damit ist auch klar, was nicht im Fokus steht: die gesprochene Sprache. Das Korpus, mit dem die Redaktion arbeitet, basiert auf öffentlich zugäng­lichen Quellen – Presse, Literatur, Sachtexte. »Da ist dann Fußball natürlich über­re­prä­sentiert«, merkt sie an. »Aber wir machen kein Wörterbuch der Fußbal­lernamen.«

Nur ein Bereich der deutschen Sprache ist tatsächlich amtlich geregelt: die Recht­schreibung. »Ansonsten sprechen wir letz­t­lich über Gebrauchs­normen.« Fast alles, was wir als ›richtig‹ empfinden, entsteht nicht durch amtliche Verordnung sondern durch kollektiven Gebrauch.

Kriege, Krisen, Kochen: was 2024 zählt

Wie Sprache Zeit spiegelt, zeigt der Blick auf die jüngste, 29. Auflage des Recht­schreib­dudens. 3.000 neue Wörter kamen hinzu. »Die drei K prägen diese Ausgabe: Kriege, Krisen, Kochen«, sagt Kunkel-Razum. So fanden Wech­sel­un­terricht, Klimakleber und Mocktail ihren Weg ins Wörterbuch. Andere Einträge wirken wie kleine Alltags­re­portagen: Reis­kocher, Räuchertofu, B-Promi – Sprach­mi­niaturen einer Gegenwart, die zwischen Krise und Komfort pendelt.

Und dann war da noch der Hacken­porsche. 2020 wurde das Wort gestrichen – aus Sicht der Redaktion fehlte die nötige Ver­­breitung im doku­men­tierten Sprach­­ge­brauch. Doch dann berichteten die Medien daüber. Intensiv. Plötzlich war der Hacken­porsche wieder überall präsent – in Artikeln, Kommentaren, Diskus­sionen. 2024 kehrte der Hacken­porsche zurück in den Duden. Ein Wort, das durch seine Streichung wieder lebendig wurde.

Die Gästin ist keine Erfindung

Besonders spannend wurde es, als Kunkel-Razum über Wörter sprach, die älter sind, als man denkt. Die Gästin zum Beispiel: oft als Symbol »neumo­dischen Genderns« kritisiert. Doch »die Gästin steht schon bei den Brüdern Grimm«. Dasselbe gilt für die Böse­wichtin: kein Neolo­gismus, sondern eine Wieder­aufnahme.

Nicht Ideologie, sondern Beleglage ent­­scheidet. »Wir wollen nicht solche Perso­nal­bil­dungen von einzelnen Jour­nalist:innen haben. Die müssen eben weiter­ver­breitet sein«, betont Kunkel-Razum. Erst wenn Wörter im Alltag wirklich ankommen, werden sie aufge­nommen.

Auch beim Thema Gendern hält Kunkel-Razum die Position klar, aber unauf­geregt. »Wir erfinden nichts aus Gender­wahn­sinn«, sagt sie, »wir bilden nur ab, was tatsächlich verwendet wird.« Der Duden beob­achtet, welche Formen sich durch­setzen weil sie gebraucht werden.

Poli­tische Eingriffe gab es übrigens den­noch: 1947 wurde der Duden »ent­­na­zi­­fi­ziert«, wie Kunkel-Razum auf eine Zuschau­e­r­frage erwähnte.

Wenn Wörter hörbar werden

Zwischendurch stellte Dr. Christoph Draxler vom Institut für Phonetik und Sprach­ver­a­r­beitung der LMU ein aktuelles Koope­ra­ti­ons­projekt mit dem Duden und dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache vor: die Vertonung des Ausspra­che­­wör­ter­buchs. Rund 60 Sprecher:innen nehmen 144.000 Wörter auf – jedes Wort mehrfach, bis Klang und Betonung stimmen. Draxler spielte einige Beispiele vor. »Manchmal hört man erst dann, wie lebendig ein Wort wirklich ist«, sagte er. Sein Lieb­lingswort: »abclich« (a·b·c·lich). Eine seltene, aber korrekte Kurzform von »alpha­betisch«.

Tradition in Regen­bo­gen­farben

Zum Schluss kam das DUDEN-Buch selbst ins Gespräch. Die 2017 einge­führte »Regen­bo­gen­reihe« (gestaltet von Iris Farn­schläder) war in der Redaktion zunächst umstritten. »Ob das nicht zu knallig ist für etwas so Tradi­ti­o­nelles?«. Heute gilt sie als gelun­genes Beispiel dafür, wie man Tradition sichtbar moder­ni­sieren kann.

Und wie lange wird es ihn noch geben, den gedruckten Duden? Kunkel-Razum bleibt gelassen. Solange Schulen, Verlage und Scrabble-Spieler:innen darauf setzen, bleibt der Duden ein Stück kultu­reller Infra­s­truktur. »Es wird immer eine Zahl von Menschen geben, die den eben wirklich auch gedruckt haben wollen.«

Ein Spiegel, kein Regelwerk

Der Abend zeigte, wie viele Geschichten in unserer Sprache stecken und wie lebendig sie ist. Der Duden ist kein starres Regelwerk, sondern ein Spiegel des Gebrauchs. Er doku­mentiert, was Menschen tatsächlich schreiben und sagen. Jedes neue Wort ist ein Zeugnis seiner Zeit. Ein Wörterbuch, das unsere Sprache beschreibt, erzählt zugleich etwas über uns, die sie gebrauchen.

Nach dem Vortrag zog es einige Besu­cher:innen mit unserer ›Gästin‹ noch in eine nahe­ge­legene Gast­stätte, um die anre­genden Gespräche bei Speis und Trank zu vertiefen und den Abend in entspannter Atmo­sphäre ausklingen zu lassen.

»Typografie in guter Gesellschaft«

Weitere Fotos des Vortrags finden Sie in unserer Flickr-Gruppe.

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