Wir stecken in einer Lesekrise!

»Und so saß er denn, der Konsul, an seinem Schreibtisch, den Federhalter in der Hand, den Blick auf die Papiere vor sich gerichtet, während draußen auf der Straße das Leben der Stadt vorbeizog, die Wagen rollten, die Menschen eilten, und das Licht des späten Nachmittags durch die hohen Fenster fiel, und er dachte an die Geschäfte, die ihn beschäftigten, an die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, an die Familie, für die er sorgte, und an die Zukunft, die so ungewiss war, daß ihm manchmal angst und bange wurde, wenn er sich vorstellte, was alles noch kommen mochte.«
Knapp 100 Wörter, ein einziger Satz aus Thomas Manns »Buddenbrooks« von 1901. Dieser Satz führt uns durch einen ganzen Bewusstseinsstrom, äußere Wahrnehmung und innere Reflexion fließen ineinander, Raum und Zeit lösen sich auf in Sprache … Heute würde ein Lektor vermutlich den roten Stift zücken und daraus vier bis fünf handhabbare Häppchen formen.
Ein jahrhundertealter Trend
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Arjun Panickssery ¹ zeigt in seinem imkürzlich auf LessWrong veröffentlichten Artikel »Why Have Sentence Lengths Decreased?« die dramatische Entwicklung:
»Die durchschnittliche Satzlänge betrug 49 Wörter bei Chaucer (gestorben 1400), […] 42 bei Austen (gestorben 1817), 20 bei Dickens (gestorben 1870), 21 bei Emerson (gestorben 1882), 14 bei D. H. Lawrence (gestorben 1930) und 18 bei Steinbeck (gestorben 1968). J. K. Rowling erreichte beim Schreiben der Harry-Potter-Bücher durchschnittlich 12 Wörter pro Satz.«
Dieser Wandel durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche: »Die durchschnittliche Satzlänge in Zeitungen fiel zwischen 1700 und 2000 von 35 Wörtern auf 20 Wörter pro Satz. Die Rede des Präsidenten zur Lage der Nation ist von 40 Wörtern pro Satz auf unter 20 Wörter pro Satz gesunken, und bei den Antrittsreden war ein ähnlicher Rückgang zu verzeichnen.« Auch Warren Buffetts Aktionärsbriefe schrumpften zwischen 1974 und 2013 »von 17,4 auf 13,4 Wörter pro Satz«.
Selbst in sicherheitskritischen Bereichen, wo sprachliche Präzision eigentlich lebenswichtig ist, gilt heute vor allem eines: Der Text muss schnell erfassbar sein. So empfiehlt die US-Luftfahrtbehörde FAA, Sätze sollten möglichst »unter 20 Wörtern pro Satz« bleiben. Auch renommierte medizinische Fachzeitschriften halten sich an diese Regel – obwohl viele Inhalte eigentlich eine differenziertere Ausdrucksweise verlangen.
Entscheidend ist Panicksserys Erkenntnis: »Der Rückgang geht dem Fernsehen, dem Radio und dem Telegraphen voraus – er dauert seit Jahrhunderten an.« Die Digitalisierung hat diesen Trend also nicht ausgelöst, sie hat ihn lediglich beschleunigt.

Was als praktische Notwendigkeit begann (Kosteneinsparung), wurde zum ästhetischen Ideal (Hemingway-Stil) und schließlich zur Überlebensstrategie in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie.
Mit Smartphone und Social Media aber verschärft sich dieser Trend heute dramatisch. Sie beschleunigen nicht nur die Textproduktion, sondern verändern die Aufmerksamkeit selbst. Push-Nachrichten, endloses Scrollen und belohnungsbasiertes Design zielen nicht auf Inhalt, sondern auf Reiz, Unterbrechung und Ablenkung. Bereits die bloße Anwesenheit eines Smartphones – unabhängig davon, ob es ein- oder ausgeschaltet ist – führt dazu, dass Menschen bei Konzentrations- und Aufmerksamkeitstests schlechter abschneiden als Personen, deren Smartphone sich in einem anderen Raum befindet.⁷ Sie sind darauf ausgelegt, tiefe Konzentration gar nicht erst entstehen zu lassen. Das ist mehr als nur ein Wandel, es ist ein Angriff auf die Fähigkeit zur aufmerksamen Konzentration – jene kognitive Grundlage, ohne die komplexes Lesen unmöglich wird.
Was macht Lesen mit unserem Gehirn?
Lesen ist alles andere als eine natürliche Fähigkeit, es ist eine »extrem komplexe Kulturtechnik«, wie die österreichische Forscherin Sabrina Turker ² vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften betont. »Eigentlich ist das ja vollkommen irre, was der Mensch da schafft« – aus »Tausenden willkürlich geformten winzigen Zeichen einen Sinn« zu filtern.
Leseanfänger nehmen Wörter noch mit beiden Hirnhälften wahr, als rein visuelle Objekte. Doch beim Erlernen des Lesens verdrahten sich die Synapsen neu. »Mit wachsendem Leseverständnis wandert die Wahrnehmung dann in die linke Seite«, erklärt Turker. Das Gehirn spezialisiert sich: Besondere Regionen werden für Buchstaben, Wörter und Sätze zuständig, Verbindungen zwischen den beteiligten Arealen verstärken sich.
Noch verblüffender sind die Befunde des Forschers Falk Huettig ² vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik: »Lesen und Schreiben führen sowohl zu einer Erweiterung der Sprachkenntnisse als auch zu einer Verbesserung der nichtsprachlichen Fähigkeiten.« Die Folgen reichen weit über die Sprache hinaus. Literalität verbessert Abstraktionsvermögen, analytisches Denken und Gedächtnisleistungen. Lesende reagieren schneller im Gespräch, bewältigen optische Suchaufgaben besser, haben ein größeres Gesichtsfeld – sie erkennen sogar Gesichter präziser als Analphabeten.
»Lesen macht klüger«, fasst Huettig zusammen. Kognitive Kapazität ist kein Nullsummenspiel – vielmehr trainiert der vertraute Umgang mit Buchstaben ganz allgemein visuelle und kognitive Fähigkeiten.
Warum Sätze schrumpfen
Die Ursachen sind natürlich vielfältig. Panickssery ¹ identifiziert jedoch einige Faktoren, die sich über Jahrhunderte verstärken:
1. Demokratisierung des Lesens
»Der Grund, warum der durchschnittliche Leser in der Vergangenheit intelligenter gewesen sein könnte, liegt daran, dass die Alphabetisierung früher stärker begrenzt war«. Als Lesen noch ein Privileg der Gebildeten war, konnte man komplexe Strukturen voraussetzen. Die kleine Leserschaft teilte einen gemeinsamen Bildungskanon: Wer lesen konnte, hatte meist auch Latein gelernt – und war mit verschachtelter Syntax vertraut.
»Die älteren Autoren nahmen einen lateinischen Stil an«, beobachtet Panickssery. Sie beherrschten die Periode – kunstvoll gebaute Sätze, in denen Haupt- und Nebensätze so miteinander verschränkt sind, dass sie Spannung erzeugen und komplexe Gedanken in einem einzigen Atemzug entfalten. Mit der Massenalphabetisierung änderte sich das grundlegend: Zwar konnten nun deutlich mehr Menschen lesen, doch oft fehlte die literarische Vorerfahrung. Der Stil passte sich dem Publikum an – ein Fortschritt im Sinne der Teilhabe, zugleich aber ein Verlust an sprachlicher Differenziertheit.
2. Vom Hören zum stillen Lesen
»Das Vorlesen von Texten vor einer Gruppe setzte sich als gesellschaftliche Praxis bis in die viktorianische Zeit fort. Analphabeten bezahlten sogar dafür, Dickens-Lesungen zu hören«, berichtet Panickssery.
Längere Sätze waren für das Hören optimiert: Sie folgten dem Atemrhythmus, nutzten Wiederholungen und Variationen, schufen einen melodischen Fluss für die Zuhörer. Das stille Lesen verlangt jedoch andere Strukturen – das Auge kann zurückspringen, Passagen überfliegen, den Rhythmus selbst bestimmen. Mit dem Verschwinden der Vorlesekultur wich die Satzmelodie der syntaktischen Klarheit.
Eine bemerkenswerte Paradoxie, die sich bis heute zeigt: Gesprochene Sprache ist komplexer als geschriebene. Panickssery maß bei spontanen Interviews mit dem Fantasy-Autor Brandon Sanderson 20 Wörter pro Satz, während dessen Romane nur 9 Wörter pro Satz erreichen. Was Jahrhunderte lang als Komposition für das Ohr gedacht war, wird heute als Snack für das Auge konzipiert.
3. Medialer und technologischer Wandel
Panickssery verweist auf einen weiteren, oft übersehenen Faktor: »Die Zeitungsbranche wuchs im 19. Jahrhundert und sie sparten Geld, wenn sie weniger Wörter verwendeten.« Platz war teuer, Zeit knapp. Auch die Telegrafie wirkte als Katalysator – jedes Wort kostete Geld. Diese ökonomische Logik prägte Generationen von Schreibern: »Viele große amerikanische Schriftsteller wie Twain, Whitman, Hemingway und Steinbeck waren Journalisten und von der Zeitungsprache beeinflusst.«
Neue Technologien verstärkten diesen Trend kontinuierlich. Bildschirme bevorzugen kurze Texteinheiten, Social Media belohnt Prägnanz. Automatische Übersetzungssoftware funktioniert besser mit einfachen Strukturen – komplexe Schachtelsätze führen zu Fehlern. Je kürzer der Satz, desto überlebensfähiger in der digitalen Welt. Was als praktische Notwendigkeit begann, wurde erst zum Stilideal, dann zur technischen Notwendigkeit.
4. Verständlichkeit und Aufmerksamkeitsökonomie
»Studien zeigen ausnahmslos, dass Sätze mit weniger Wörtern für Leser schneller und leichter zu verstehen sind«, fasst Panickssery zusammen. Der Flesch-Kincaid-Index machte das messbar: »Wenn ein Satz im Durchschnitt etwa 10 Wörter länger ist, steigt die geschätzte Lesbarkeitsstufe um etwa eine Schulstufe.«
Gleichzeitig verstärkte die Aufmerksamkeitsökonomie diesen Trend: »Als mehr Menschen zu Lesern wurden – und häufiger, vor allem still, lasen – verstärkte sich der Selektionsdruck für jene Stile, die schnell gelesen und verstanden wurden konnten.« In einer Welt exponentiell wachsender Information kämpfen Texte um begrenzte Aufmerksamkeit.
Die deutsche Bildungskrise als Brennglas
Was sich historisch über Jahrhunderte entwickelte, erreicht heute durch digitale Medien eine neue, kritische Qualität und zeigt sich in Deutschland als akute Krise. Nach der aktuellsten PIAAC-Studie der OECD ⁵ ⁶ erreichen 20 Prozent der erwachsenen Deutschen maximal die niedrigste Lesekompetenzstufe 1, Tendenz steigend. Millionen wahlberechtigter Menschen lesen nie eine Zeitung, geschweige denn ein Buch.
Die Pädagogin Anke Grotlüschen ² von der Universität Hamburg macht eine wachsende gesellschaftliche Spaltung für die sinkende Lesekompetenz verantwortlich: »Die Schlechten werden immer schlechter, die Guten werden immer besser.« Derweil erreicht nur ein Prozent der Menschen in Deutschland die höchste Lesekompetenzstufe 5 – jene Menschen, die »lange, komplexe Texte mit hoher Informationsdichte verstehen« und »die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen bewerten« können.
Im Interview »Die Leselust wird nicht gefördert« ⁴ (DIE ZEIT Nr. 18/2025) schildern die Deutschlehrerin Kerstin Hauke und die Bildungsforscherin Petra Anders eine beunruhigende Realität. Hauke berichtet aus ihrem Klassenzimmer: »Die Schüler sagen selbst, ihnen fehle die Konzentration, um längere Texte zu lesen.« Zudem verschwinden grundlegende kulturelle Referenzen – Wörter wie »Kahn« oder »Lärche« sind unbekannt, komplexe Satzstrukturen überfordern systematisch. »Es fällt ihnen schwerer als früheren Generationen, komplexe Sätze zu verstehen.« Und Huettig ² warnt zusätzlich: »Wenn die KI jetzt das Lesen und Schreiben übernimmt, werden sich die Probleme weiter verschärfen«.
Noch alarmierender ist die Situation in der Lehrerbildung. Frau Anders ⁴ stellt fest: »Dass Lesen Spaß machen kann, dass ein Buch etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben kann, dass man sich mit einer Romanfigur identifizieren kann: Diese Erfahrungen sind für viele Studierende neu.« Die Zahlen sind erschreckend: Bei Staatsprüfungen können neun von zehn Referendare kein modernes Werk als Unterrichtslektüre empfehlen. Selbst Brecht ist »den meisten Studierenden unbekannt«.
Doch anstatt gegenzusteuern, institutionalisiert das Bildungssystem diesen Mangel. Petra Anders kritisiert: „Problematisch ist die geringe Zahl der Bücher, die Schüler lesen müssen.“ Ein Abiturient in Nordrhein-Westfalen liest in zwei Jahren Deutschunterricht gerade einmal zwei vollständige Werke: Kleists »Der zerbrochne Krug« (80 Seiten) und Jenny Erpenbecks »Heimsuchung« (180 Seiten). Was bleibt, sind Textauszüge, Lesestrategien und pragmatische Texte – didaktisch effizient, aber literarisch entkernt. Die transformative Erfahrung vollständiger Werke – die Irritation, die Ambivalenz, das Ringen mit Bedeutung – all das fällt systematisch weg.
Ein kultureller Gedächtnisverlust mit weitreichenden Folgen. Wie soll man Literatur überzeugend unterrichten, wenn man literarische Qualität nie selbst erlebt hat? Wie vermitteln – ohne Fundament?
Hoffnungsschimmer
Und doch gibt es auch Anlass zur Zuversicht. Während viele Schüler im Unterricht an klassischen Satzgefügen scheitern, bewegen sich dieselben Jugendlichen mit bemerkenswerter Souveränität durch hochkomplexe digitale Textwelten. Die Bildungsforscherin Anders ⁴ beobachtet: »Junge Menschen verfolgen Texte über lange Zeiträume hinweg. Sie behalten in diesen digitalen Textwelten, die voller Andeutungen, Memes und mehrsprachiger Kommentare sind, vermutlich weit besser den Überblick als jeder Literaturprofessor.«
Noch eindrucksvoller ist ihr Umgang mit seriellen Erzählungen: »In Gesprächen zu höchst komplexen Serien wie etwa dem seit über 25 Jahren wachsenden Manga ›One Piece‹ beweisen Heranwachsende in unseren Schulprojekten ausgezeichnete Genre-Kenntnisse.« Sie verfolgen über Jahre hinweg erzählerische Strukturen von erheblicher Tiefe, erkennen intertextuelle Bezüge und navigieren mühelos durch verschachtelte Erzählstränge. Komplexe Geschichten werden also durchaus verstanden – nur eben nicht die, die im Lehrplan stehen.
Ein weiterer Hoffnungsschimmer zeigt sich im Klassenzimmer selbst. Die Deutschlehrerin berichtet: »Ich beobachte durchaus eine Sehnsucht nach Geschichten. Wenn wir mit einer neuen Lektüre beginnen, lese ich häufig die ersten Seiten vor – und jedes Mal herrscht eine gebannte Stille.« Das Vorlesen macht Sprache wieder hörbar. Es überwindet Schwellenangst, verwandelt abstrakten Text in gelebten Klang. »Einen Text rezitierend in einen Raum zu bringen, dient auch der ästhetischen Sensibilisierung.«
Mehrdeutigkeit als Schlüssel zur Zukunft
»Wir sollten den Kindern und Jugendlichen mehrdeutige Texte zumuten, bei denen es etwas zu entdecken gibt.« Diese Forderung von Petra Anders ⁴ richtet sich gegen den Trend zur didaktischen Vereinfachung – und für eine Rückbesinnung auf das, was Literatur im Kern leisten kann: Herausforderungen als Einladung zur Erkenntnis. »Gerade das ist der Sinn von Literatur: etwas nicht zu verstehen und darüber ins Gespräch zu kommen.«
Frau Anders betont: »Wichtig ist mir die Erfahrung von Komplexität und Mehrdeutigkeit, die Konfrontation mit dem Unbekannten. Das ist eine zentrale Zukunftskompetenz.« Nicht nur das schnelle Verstehen von Texten ist ein Wert, sondern auch das produktive Nichtverstehen – jenes Staunen, das Fragen aufwirft und Denken auslöst.
Diese Einsicht wird umso dringlicher, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Gute Lesefähigkeiten sind nicht nur eine Frage ästhetischer Bildung – sie sind fundamental für demokratische Teilhabe. Nur wer kritisch denken, Ambiguität aushalten und »die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen bewerten« kann, ist gegen Manipulation und autoritäre Politik gewappnet. Der Verlust dieser Fähigkeiten gefährdet die Demokratie selbst.
Forderungen
Panicksserys ¹ Analyse zeigt: Der Trend zur Kürze ist historisch gewachsen und nicht umkehrbar. Dennoch muss er nicht zur ausschließlichen Norm werden. Hier liegt die zentrale Herausforderung – auch für die Typografie.
Forderung an die Typografie
Schluss mit der unreflektierten Unterstützung von Vereinfachung! Typografie muss Mut zur Komplexität entwickeln und Räume schaffen, in denen auch anspruchsvolle Texte zugänglich werden, ohne banalisiert zu werden. Weißraum nicht als beliebiges Gestaltungselement, sondern wieder als Denkpause verstehen. Hierarchien als Navigationshilfen durch komplexe Gedankengänge entwickeln. Schriftgrößen und Schriftsschnitte als Interpretationshilfen einsetzen … Typografie als Rhythmusgeberin, als Hermeneutik, als kuratorisches Werkzeug und als Gedankenträger.
Das bedeutet nicht, dass Zugänglichkeit, etwa in Form von Leichter Sprache, vernachlässigt werden sollte. Im Gegenteil: Erst die Beherrschung des gesamten Spektrums – von maximaler Klarheit bis zu bewusst gestalteter Komplexität – erschließt das volle Potenzial typografischer Gestaltung. Die Arbeit mit Leichter Sprache schärft das Gespür für Struktur und Leserführung; die Gestaltung komplexer Texte verfeinert das Bewusstsein für Nuancen, Zwischentöne und interpretative Ebenen. Beide Ansätze ergänzen sich in der Praxis – und erweitern das gestalterische Repertoire für einfache wie anspruchsvolle Inhalte.
Forderung an die Gesellschaft
Anerkennung für die Vielfalt von Textkompetenzen! Die digitalen Lesestrategien heutiger Jugendlicher sind nicht weniger wertvoll als traditionelle – sie folgen nur anderen Logiken: fragmentierter, schneller, oft visuell codiert, kontextabhängig, assoziativ vernetzt. Verkennt nicht das kognitive Potenzial einer Generation, die zwischen Screens, Subtexten und Symbolen navigiert wie andere einst durch Karteikarten!
Diese Kompetenzen allein reichen aber nicht aus. Solange Smartphones und Social Media die Aufmerksamkeitsspanne systematisch fragmentieren, helfen die besten typografischen Lösungen nichts. Es braucht explizite Strategien im Umgang mit digitalen Ablenkungen. Nicht als Verteufelung der Technik, sondern als bewusste Kultivierung von Konzentrationsfähigkeit.
Gleichzeitig braucht es eine Bildungspolitik, die dem dramatischen Rückgang der Lesekompetenz entgegenwirkt. Wenn 20 Prozent der Erwachsenen nur die niedrigste Lesekompetenzstufe erreichen, ist das nicht nur ein individuelles Problem – es gefährdet die demokratische Kultur.
Forderung an die Wissenschaft
Die Warnung ist deutlich: »Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Schriftsprache als eine Übergangstechnologie in der Menschheitsgeschichte erweisen wird«, so Huettig und Christiansen ². Kognitionswissenschaftler müssen dringend erforschen, wie große Sprachmodelle eingesetzt werden können, ohne Literalität zu beschädigen. Die Gefahr ist real: Wenn KI das Lesen und Schreiben übernimmt, verlieren wir jene kognitiven Fähigkeiten, die uns über Jahrtausende geprägt haben.
Forderung an die Medien
Widerstand gegen die Diktatur der Algorithmen! Nicht jeder Text muss sofort erfassbar, klickbar, konsumierbar sein. Es braucht wieder Räume für das Langsame, das Komplexe, das Nachwirkende. Texte, die Zeit kosten, die denken lassen, die nicht glatt durchrutschen, sondern haken – und genau dadurch Bedeutung erzeugen. Die Publikation anspruchsvoller Inhalte ist kein Luxus, sie ist eine kulturelle Verantwortung.
Schlussgedanke:
Die Fähigkeit, komplexe Gedanken zu entfalten, zu lesen und zu verstehen, ist ein bedrohtes Kulturgut. Was vor 5000 Jahren als praktische Erfindung für die Verwaltung begann, hat seitdem unsere Gehirne geformt, unsere Intelligenz gesteigert und Demokratien ermöglicht.
Typografie ist dabei mehr als ästhetisches Mittel – sie ist das kritische Interface zwischen Gedanke und Verstehen. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Vereinfachung zu gestalten. Wir müssen auch Komplexität ermöglichen. In einer Welt, in der Millionen Menschen nie ein Buch lesen und die durchschnittliche Intelligenz sinkt, wird die Verantwortung aller größer.
Und weil auch dieser Text über Sprachverknappung nach weit über 2.000 Wörtern dem Zeitgeist folgen will: Weil die Sätze kürzer werden, wird unsere Verantwortung größer.
Quellen:
Arjun Panickssery: "Why Have Sentence Lengths Decreased?", LessWrong, 3. April 2025 (WaybackMachine, abgerufen am 27. Mai 2025)
Christian Weber: "Wieso wir auch in Zukunft Bücher lesen sollten", Süddeutsche Zeitung 28. Mai 2025 (Bezahlschranke)
Mark Liberman: "Real trends in word and sentence length", Language Log, 31. Oktober 2011 (abgerufen am 27. Mai 2025)
Martin Spiewak: "Die Leselust wird nicht gefördert", DIE ZEIT Nr. 18/2025, aktualisiert am 5. Mai 2025 (Bezahlschranke, abgerufen am 27. Mai 2025)
OECD: "Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC)" (abgerufen am 28. Mai 2025)
European Association for the Education of Adults: "New PIAAC results show declining literacy and increasing inequality in many European countries", 11. Dezember 2024 (abgerufen am 28. Mai 2025)
Jeanette Skowronek, Andreas Seifert & Sven Lindberg: "The mere presence of a smartphone reduces basal attentional performance", 8. Juni 2023 (abgerufen am 29. Mai 2025)
Herzlichen Dank an Dr. Hermann Iding für den anregenden Diskurs und den Hinweis auf mehrere der hier verwendeten Quellen – beides hat maßgeblich zu diesem Beitrag beigetragen.