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Wir stecken in einer Lesekrise!

Michi Bundscherer
1. Juni 2025
Lange Sätze galten einst als sprachliche Krönung. Heute verstehen 20 Prozent der Deutschen keine komplexen Texte und angehende Lehr­kräfte kennen teilweise Brecht nicht mehr. Das Smartphone und Social Media verschärfen die Krise zusätzlich dramatisch. Was bedeutet das für uns? Zeit, dass Gesell­schaft, Wissen­schaft, Medien und die Typo­grafie Verant­wortung über­nehmen!
Und so saß sie denn, die junge Person, an ihrem Schreibtisch im Zimmer vor dem Fenster, den Blick auf die sehr vielen sehr voll geschriebenen Papiere und Bücher vor sich gerichtet – während draußen auf der Straße das Leben der Stadt vorbeizog. Man sieht die Person von hinten. Bleistiftzeichnung in schwarz-weiß. Bild mit KI generiert.

»Und so saß er denn, der Konsul, an seinem Schreibtisch, den Federhalter in der Hand, den Blick auf die Papiere vor sich gerichtet, während draußen auf der Straße das Leben der Stadt vorbeizog, die Wagen rollten, die Menschen eilten, und das Licht des späten Nachmittags durch die hohen Fenster fiel, und er dachte an die Geschäfte, die ihn beschäftigten, an die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, an die Familie, für die er sorgte, und an die Zukunft, die so ungewiss war, daß ihm manchmal angst und bange wurde, wenn er sich vorstellte, was alles noch kommen mochte.«

Knapp 100 Wörter, ein einziger Satz aus Thomas Manns »Buddenbrooks« von 1901. Dieser Satz führt uns durch einen ganzen Bewusstseins­strom, äußere Wahrnehmung und innere Reflexion fließen ineinander, Raum und Zeit lösen sich auf in Sprache … Heute würde ein Lektor vermutlich den roten Stift zücken und daraus vier bis fünf handhabbare Häppchen formen.

Ein jahr­hun­der­te­alter Trend

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Arjun Panickssery ¹ zeigt in seinem imkürzlich auf LessWrong veröf­fent­lichten Artikel »Why Have Sentence Lengths Decreased?« die drama­tische Entwicklung:
»Die durch­schnittliche Satzlänge betrug 49 Wörter bei Chaucer (gestorben 1400), […] 42 bei Austen (gestorben 1817), 20 bei Dickens (gestorben 1870), 21 bei Emerson (gestorben 1882), 14 bei D. H. Lawrence (gestorben 1930) und 18 bei Steinbeck (gestorben 1968). J. K. Rowling erreichte beim Schreiben der Harry-Potter-Bücher durch­schnittlich 12 Wörter pro Satz

Dieser Wandel durchzieht alle gesell­schaft­lichen Bereiche: »Die durch­schnittliche Satzlänge in Zeitungen fiel zwischen 1700 und 2000 von 35 Wörtern auf 20 Wörter pro Satz. Die Rede des Präsi­denten zur Lage der Nation ist von 40 Wörtern pro Satz auf unter 20 Wörter pro Satz gesunken, und bei den Antrittsreden war ein ähnlicher Rückgang zu verzeichnen.« Auch Warren Buffetts Akti­o­närs­briefe schrumpften zwischen 1974 und 2013 »von 17,4 auf 13,4 Wörter pro Satz«.

Selbst in sicher­heits­kri­tischen Bereichen, wo sprachliche Präzision eigentlich lebens­wichtig ist, gilt heute vor allem eines: Der Text muss schnell erfassbar sein. So empfiehlt die US-Luft­fahrt­behörde FAA, Sätze sollten möglichst »unter 20 Wörtern pro Satz« bleiben. Auch renom­mierte medi­zi­nische Fach­zeit­schriften halten sich an diese Regel – obwohl viele Inhalte eigentlich eine diffe­ren­ziertere Ausdrucksweise verlangen.

Entscheidend ist Panicksserys Erkenntnis: »Der Rückgang geht dem Fernsehen, dem Radio und dem Tele­graphen voraus – er dauert seit Jahr­hun­derten an.« Die Digi­ta­li­sierung hat diesen Trend also nicht ausgelöst, sie hat ihn lediglich beschleunigt.

Links: Satzlängen in US-amerikanischen Antrittsreden, rechts: Satzlängen in Reden zur Lage der Nation, Daten von Mark Liberman ³, 2011.

Was als prak­tische Notwen­digkeit begann (Kosten­ein­sparung), wurde zum ästhe­tischen Ideal (Hemingway-Stil) und schließlich zur Über­le­bens­strategie in der digitalen Aufmerk­sam­keits­ökonomie.

Mit Smartphone und Social Media aber verschärft sich dieser Trend heute dramatisch. Sie beschleunigen nicht nur die Text­pro­duktion, sondern verändern die Aufmerk­samkeit selbst. Push-Nach­richten, endloses Scrollen und beloh­nungs­ba­siertes Design zielen nicht auf Inhalt, sondern auf Reiz, Unter­brechung und Ablenkung. Bereits die bloße Anwe­senheit eines Smart­phones – unab­hängig davon, ob es ein- oder ausge­schaltet ist – führt dazu, dass Menschen bei Konzen­trations- und Aufmerk­sam­keitstests schlechter abschneiden als Personen, deren Smartphone sich in einem anderen Raum befindet.⁷ Sie sind darauf ausgelegt, tiefe Konzen­tration gar nicht erst entstehen zu lassen. Das ist mehr als nur ein Wandel, es ist ein Angriff auf die Fähigkeit zur aufmerksamen Konzen­tration – jene kognitive Grundlage, ohne die komplexes Lesen unmöglich wird.

Was macht Lesen mit unserem Gehirn?

Lesen ist alles andere als eine natürliche Fähigkeit, es ist eine »extrem komplexe Kultur­technik«, wie die öster­rei­chische Forscherin Sabrina Turker ² vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neuro­wis­sen­schaften betont. »Eigentlich ist das ja voll­kommen irre, was der Mensch da schafft« – aus »Tausenden will­kürlich geformten winzigen Zeichen einen Sinn« zu filtern.

Lese­an­fänger nehmen Wörter noch mit beiden Hirn­hälften wahr, als rein visuelle Objekte. Doch beim Erlernen des Lesens verdrahten sich die Synapsen neu. »Mit wach­sendem Lese­ver­ständnis wandert die Wahr­nehmung dann in die linke Seite«, erklärt Turker. Das Gehirn spezi­a­lisiert sich: Besondere Regionen werden für Buch­staben, Wörter und Sätze zuständig, Verbin­dungen zwischen den betei­ligten Arealen verstärken sich.

Noch verblüf­fender sind die Befunde des Forschers Falk Huettig ² vom Max-Planck-Institut für Psycho­lin­guistik: »Lesen und Schreiben führen sowohl zu einer Erwei­terung der Sprach­kenntnisse als auch zu einer Verbes­serung der nicht­sprach­lichen Fähig­keiten.« Die Folgen reichen weit über die Sprache hinaus. Lite­ralität verbessert Abstrak­ti­ons­vermögen, analy­tisches Denken und Gedächt­nis­leis­tungen. Lesende reagieren schneller im Gespräch, bewältigen optische Such­aufgaben besser, haben ein größeres Gesichtsfeld – sie erkennen sogar Gesichter präziser als Anal­phabeten.

»Lesen macht klüger«, fasst Huettig zusammen. Kognitive Kapazität ist kein Null­sum­menspiel – vielmehr trainiert der vertraute Umgang mit Buch­staben ganz allgemein visuelle und kognitive Fähig­keiten.

Warum Sätze schrumpfen

Die Ursachen sind natürlich viel­fältig. Panickssery ¹ iden­ti­fiziert jedoch einige Faktoren, die sich über Jahr­hunderte verstärken:

1. Demo­kra­ti­sierung des Lesens

»Der Grund, warum der durch­schnittliche Leser in der Vergan­gen­heit intel­li­genter gewesen sein könnte, liegt daran, dass die Alpha­be­ti­sierung früher stärker begrenzt war«. Als Lesen noch ein Privileg der Gebildeten war, konnte man komplexe Strukturen voraus­setzen. Die kleine Leser­schaft teilte einen gemeinsamen Bildungskanon: Wer lesen konnte, hatte meist auch Latein gelernt – und war mit verschach­telter Syntax vertraut.

»Die älteren Autoren nahmen einen latei­nischen Stil an«, beob­achtet Panickssery. Sie beherrschten die Periode – kunstvoll gebaute Sätze, in denen Haupt- und Nebensätze so miteinander verschränkt sind, dass sie Spannung erzeugen und komplexe Gedanken in einem einzigen Atemzug entfalten. Mit der Masse­n­al­pha­be­ti­sierung änderte sich das grund­legend: Zwar konnten nun deutlich mehr Menschen lesen, doch oft fehlte die lite­ra­rische Vorer­fahrung. Der Stil passte sich dem Publikum an – ein Fort­s­chritt im Sinne der Teilhabe, zugleich aber ein Verlust an sprach­licher Diffe­ren­ziertheit.

2. Vom Hören zum stillen Lesen

»Das Vorlesen von Texten vor einer Gruppe setzte sich als gesell­schaftliche Praxis bis in die vikto­ri­a­nische Zeit fort. Anal­phabeten bezahlten sogar dafür, Dickens-Lesungen zu hören«, berichtet Panickssery.

Längere Sätze waren für das Hören optimiert: Sie folgten dem Atem­rhythmus, nutzten Wieder­ho­lungen und Varia­tionen, schufen einen melo­dischen Fluss für die Zuhörer. Das stille Lesen verlangt jedoch andere Strukturen – das Auge kann zurück­springen, Passagen über­fliegen, den Rhythmus selbst bestimmen. Mit dem Verschwinden der Vorle­se­kultur wich die Satz­melodie der syntak­tischen Klarheit.

Eine bemer­kenswerte Paradoxie, die sich bis heute zeigt: Gesprochene Sprache ist komplexer als geschriebene. Panickssery maß bei spontanen Interviews mit dem Fantasy-Autor Brandon Sanderson 20 Wörter pro Satz, während dessen Romane nur 9 Wörter pro Satz erreichen. Was Jahr­hunderte lang als Kompo­sition für das Ohr gedacht war, wird heute als Snack für das Auge konzipiert.

3. Medialer und tech­no­lo­gischer Wandel

Panickssery verweist auf einen weiteren, oft über­sehenen Faktor: »Die Zeitungs­branche wuchs im 19. Jahr­hundert und sie sparten Geld, wenn sie weniger Wörter verwendeten.« Platz war teuer, Zeit knapp. Auch die Tele­grafie wirkte als Kata­lysator – jedes Wort kostete Geld. Diese ökono­mische Logik prägte Gene­ra­tionen von Schreibern: »Viele große ameri­ka­nische Schrift­steller wie Twain, Whitman, Hemingway und Steinbeck waren Jour­na­listen und von der Zeitungs­prache beein­flusst.«

Neue Tech­no­logien verstärkten diesen Trend konti­nu­ierlich. Bild­schirme bevorzugen kurze Text­ein­heiten, Social Media belohnt Prägnanz. Auto­ma­tische Über­set­zungs­software funk­tioniert besser mit einfachen Strukturen – komplexe Schach­telsätze führen zu Fehlern. Je kürzer der Satz, desto über­le­bens­fähiger in der digitalen Welt. Was als prak­tische Notwen­digkeit begann, wurde erst zum Stilideal, dann zur tech­nischen Notwen­digkeit.

4. Verständ­lichkeit und Aufmerk­sam­keits­ökonomie

»Studien zeigen ausnahmslos, dass Sätze mit weniger Wörtern für Leser schneller und leichter zu verstehen sind«, fasst Panickssery zusammen. Der Flesch-Kincaid-Index machte das messbar: »Wenn ein Satz im Durch­schnitt etwa 10 Wörter länger ist, steigt die geschätzte Lesbar­keitsstufe um etwa eine Schulstufe.«

Gleich­zeitig verstärkte die Aufmerk­sam­keits­ökonomie diesen Trend: »Als mehr Menschen zu Lesern wurden – und häufiger, vor allem still, lasen – verstärkte sich der Selek­ti­onsdruck für jene Stile, die schnell gelesen und verstanden wurden konnten.« In einer Welt expo­nentiell wach­sender Infor­mation kämpfen Texte um begrenzte Aufmerk­samkeit.

Die deutsche Bildungskrise als Brennglas

Was sich historisch über Jahr­hunderte entwi­ckelte, erreicht heute durch digitale Medien eine neue, kritische Qualität und zeigt sich in Deut­schland als akute Krise. Nach der aktu­ellsten PIAAC-Studie der OECD ⁵ ⁶ erreichen 20 Prozent der erwachsenen Deutschen maximal die nied­rigste Lese­kom­pe­tenzstufe 1, Tendenz steigend. Millionen wahl­be­rech­tigter Menschen lesen nie eine Zeitung, geschweige denn ein Buch.

Die Pädagogin Anke Grot­lüschen ² von der Universität Hamburg macht eine wachsende gesell­schaftliche Spaltung für die sinkende Lese­kom­petenz verant­wortlich: »Die Schlechten werden immer schlechter, die Guten werden immer besser.« Derweil erreicht nur ein Prozent der Menschen in Deut­schland die höchste Lese­kom­pe­tenzstufe 5 – jene Menschen, die »lange, komplexe Texte mit hoher Infor­ma­ti­ons­dichte verstehen« und »die Glaub­wür­digkeit von Infor­ma­ti­ons­quellen bewerten« können.

Im Interview »Die Leselust wird nicht gefördert« ⁴ (DIE ZEIT Nr. 18/2025) schildern die Deut­sch­lehrerin Kerstin Hauke und die Bildungs­for­scherin Petra Anders eine beun­ru­higende Realität. Hauke berichtet aus ihrem Klas­sen­zimmer: »Die Schüler sagen selbst, ihnen fehle die Konzen­tration, um längere Texte zu lesen.« Zudem verschwinden grund­legende kulturelle Refe­renzen – Wörter wie »Kahn« oder »Lärche« sind unbekannt, komplexe Satz­strukturen über­fordern syste­matisch. »Es fällt ihnen schwerer als früheren Gene­ra­tionen, komplexe Sätze zu verstehen.« Und Huettig ² warnt zusätzlich: »Wenn die KI jetzt das Lesen und Schreiben übernimmt, werden sich die Probleme weiter verschärfen«.

Noch alar­mie­render ist die Situation in der Lehr­er­bildung. Frau Anders ⁴ stellt fest: »Dass Lesen Spaß machen kann, dass ein Buch etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben kann, dass man sich mit einer Romanfigur iden­ti­fi­zieren kann: Diese Erfah­rungen sind für viele Studierende neu.« Die Zahlen sind erschreckend: Bei Staats­prü­fungen können neun von zehn Refe­rendare kein modernes Werk als Unter­richts­lektüre empfehlen. Selbst Brecht ist »den meisten Studie­renden unbekannt«.

Doch anstatt gegen­zu­steuern, insti­tu­ti­o­na­lisiert das Bildungs­system diesen Mangel. Petra Anders kritisiert: „Pro­ble­matisch ist die geringe Zahl der Bücher, die Schüler lesen müssen.“ Ein Abiturient in Nordrhein-Westfalen liest in zwei Jahren Deutsch­un­terricht gerade einmal zwei voll­ständige Werke: Kleists »Der zerbrochne Krug« (80 Seiten) und Jenny Erpenbecks »Heim­suchung« (180 Seiten). Was bleibt, sind Text­auszüge, Lese­stra­tegien und prag­ma­tische Texte – didaktisch effizient, aber lite­rarisch entkernt. Die trans­for­mative Erfahrung voll­ständiger Werke – die Irri­tation, die Ambi­valenz, das Ringen mit Bedeutung – all das fällt syste­matisch weg.

Ein kultu­reller Gedächt­nis­verlust mit weit­rei­chenden Folgen. Wie soll man Literatur über­zeugend unter­richten, wenn man lite­ra­rische Qualität nie selbst erlebt hat? Wie vermitteln – ohne Fundament?

Hoff­nungs­schimmer

Und doch gibt es auch Anlass zur Zuversicht. Während viele Schüler im Unterricht an klas­sischen Satz­gefügen scheitern, bewegen sich dieselben Jugend­lichen mit bemer­kens­werter Souve­ränität durch hoch­komplexe digitale Text­welten. Die Bildungs­for­scherin Anders ⁴ beob­achtet: »Junge Menschen verfolgen Texte über lange Zeiträume hinweg. Sie behalten in diesen digitalen Text­welten, die voller Andeu­tungen, Memes und mehr­spra­chiger Kommentare sind, vermutlich weit besser den Überblick als jeder Lite­ra­tur­pro­fessor.«

Noch eindrucks­voller ist ihr Umgang mit seriellen Erzäh­lungen: »In Gesprächen zu höchst komplexen Serien wie etwa dem seit über 25 Jahren wach­senden Manga ›One Piece‹ beweisen Heran­wachsende in unseren Schul­pro­jekten ausge­zeichnete Genre-Kenntnisse.« Sie verfolgen über Jahre hinweg erzäh­le­rische Strukturen von erheb­licher Tiefe, erkennen inter­tex­tuelle Bezüge und navi­gieren mühelos durch verschachtelte Erzähl­stränge. Komplexe Geschichten werden also durchaus verstanden – nur eben nicht die, die im Lehrplan stehen.

Ein weiterer Hoff­nungs­schimmer zeigt sich im Klas­sen­zimmer selbst. Die Deut­sch­lehrerin berichtet: »Ich beobachte durchaus eine Sehnsucht nach Geschichten. Wenn wir mit einer neuen Lektüre beginnen, lese ich häufig die ersten Seiten vor – und jedes Mal herrscht eine gebannte Stille.« Das Vorlesen macht Sprache wieder hörbar. Es über­windet Schwel­lenangst, verwandelt abstrakten Text in gelebten Klang. »Einen Text rezi­tierend in einen Raum zu bringen, dient auch der ästhe­tischen Sensi­bi­li­sierung.«

Mehr­deu­tigkeit als Schlüssel zur Zukunft

»Wir sollten den Kindern und Jugend­lichen mehr­deutige Texte zumuten, bei denen es etwas zu entdecken gibt.« Diese Forderung von Petra Anders ⁴ richtet sich gegen den Trend zur didak­tischen Verein­fachung – und für eine Rück­be­sinnung auf das, was Literatur im Kern leisten kann: Heraus­for­de­rungen als Einladung zur Erkenntnis. »Gerade das ist der Sinn von Literatur: etwas nicht zu verstehen und darüber ins Gespräch zu kommen.«

Frau Anders betont: »Wichtig ist mir die Erfahrung von Komplexität und Mehr­deu­tigkeit, die Konfron­tation mit dem Unbe­kannten. Das ist eine zentrale Zukunfts­kom­petenz.« Nicht nur das schnelle Verstehen von Texten ist ein Wert, sondern auch das produktive Nicht­ver­stehen – jenes Staunen, das Fragen aufwirft und Denken auslöst.

Diese Einsicht wird umso dring­licher, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht. Gute Lese­fä­hig­keiten sind nicht nur eine Frage ästhe­tischer Bildung – sie sind funda­mental für demo­kra­tische Teilhabe. Nur wer kritisch denken, Ambi­guität aushalten und »die Glaub­wür­digkeit von Infor­ma­ti­ons­quellen bewerten« kann, ist gegen Mani­pu­lation und auto­ritäre Politik gewappnet. Der Verlust dieser Fähig­keiten gefährdet die Demo­kratie selbst.

Forde­rungen

Panicksserys ¹ Analyse zeigt: Der Trend zur Kürze ist historisch gewachsen und nicht umkehrbar. Dennoch muss er nicht zur ausschließ­lichen Norm werden. Hier liegt die zentrale Heraus­for­derung – auch für die Typo­grafie.

Forderung an die Typo­grafie

Schluss mit der unre­flek­tierten Unter­stützung von Verein­fachung! Typo­grafie muss Mut zur Komplexität entwickeln und Räume schaffen, in denen auch anspruchsvolle Texte zugänglich werden, ohne bana­lisiert zu werden. Weißraum nicht als beliebiges Gestal­tungs­element, sondern wieder als Denkpause verstehen. Hier­a­rchien als Navi­ga­ti­ons­hilfen durch komplexe Gedan­kengänge entwickeln. Schrift­größen und Schrifts­schnitte als Inter­pre­ta­ti­ons­hilfen einsetzen … Typo­­­grafie als Rhyth­mus­­geberin, als Herme­­neutik, als kura­to­risches Werkzeug und als Gedan­ken­­träger.

Das bedeutet nicht, dass Zugäng­lichkeit, etwa in Form von Leichter Sprache, vernach­lässigt werden sollte. Im Gegenteil: Erst die Beherr­schung des gesamten Spektrums – von maximaler Klarheit bis zu bewusst gestalteter Komplexität – erschließt das volle Potenzial typo­gra­fischer Gestaltung. Die Arbeit mit Leichter Sprache schärft das Gespür für Struktur und Leser­führung; die Gestaltung komplexer Texte verfeinert das Bewusstsein für Nuancen, Zwischentöne und inter­pre­tative Ebenen. Beide Ansätze ergänzen sich in der Praxis – und erweitern das gestal­te­rische Repertoire für einfache wie anspruchsvolle Inhalte.

Forderung an die Gesell­schaft

Aner­kennung für die Vielfalt von Text­kom­pe­tenzen! Die digitalen Lese­stra­tegien heutiger Jugend­licher sind nicht weniger wertvoll als tradi­ti­onelle – sie folgen nur anderen Logiken: frag­men­tierter, schneller, oft visuell codiert, kontext­ab­hängig, asso­ziativ vernetzt. Verkennt nicht das kognitive Potenzial einer Gene­ration, die zwischen Screens, Subtexten und Symbolen navigiert wie andere einst durch Kartei­karten!

Diese Kompe­tenzen allein reichen aber nicht aus. Solange Smart­phones und Social Media die Aufmerk­sam­keitsspanne syste­matisch frag­men­tieren, helfen die besten typo­gra­fischen Lösungen nichts. Es braucht explizite Stra­tegien im Umgang mit digitalen Ablen­kungen. Nicht als Verteu­felung der Technik, sondern als bewusste Kulti­vierung von Konzen­tra­ti­ons­fä­higkeit.

Gleich­zeitig braucht es eine Bildungs­politik, die dem drama­tischen Rückgang der Lese­kom­petenz entge­genwirkt. Wenn 20 Prozent der Erwachsenen nur die nied­rigste Lese­kom­pe­tenzstufe erreichen, ist das nicht nur ein indi­vi­duelles Problem – es gefährdet die demo­kra­tische Kultur.

Forderung an die Wissen­schaft

Die Warnung ist deutlich: »Es ist nicht auszu­schließen, dass sich die Schrift­sprache als eine Über­g­angs­tech­nologie in der Mensch­heits­ge­schichte erweisen wird«, so Huettig und Chris­tiansen ². Kogni­ti­ons­wis­sen­schaftler müssen dringend erforschen, wie große Sprach­modelle eingesetzt werden können, ohne Lite­ralität zu beschädigen. Die Gefahr ist real: Wenn KI das Lesen und Schreiben übernimmt, verlieren wir jene kognitiven Fähig­keiten, die uns über Jahr­tausende geprägt haben.

Forderung an die Medien

Widerstand gegen die Diktatur der Algo­rithmen! Nicht jeder Text muss sofort erfassbar, klickbar, konsu­mierbar sein. Es braucht wieder Räume für das Langsame, das Komplexe, das Nach­wirkende. Texte, die Zeit kosten, die denken lassen, die nicht glatt durch­rutschen, sondern haken – und genau dadurch Bedeutung erzeugen. Die Publi­kation anspruchs­voller Inhalte ist kein Luxus, sie ist eine kulturelle Verant­wortung.

Schluss­gedanke:

Die Fähigkeit, komplexe Gedanken zu entfalten, zu lesen und zu verstehen, ist ein bedrohtes Kulturgut. Was vor 5000 Jahren als prak­tische Erfindung für die Verwaltung begann, hat seitdem unsere Gehirne geformt, unsere Intel­ligenz gesteigert und Demo­kratien ermöglicht.

Typo­grafie ist dabei mehr als ästhe­tisches Mittel – sie ist das kritische Interface zwischen Gedanke und Verstehen. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Verein­fachung zu gestalten. Wir müssen auch Komplexität ermög­lichen. In einer Welt, in der Millionen Menschen nie ein Buch lesen und die durch­schnittliche Intel­ligenz sinkt, wird die Verant­wortung aller größer.

Und weil auch dieser Text über Sprach­ver­knappung nach weit über 2.000 Wörtern dem Zeitgeist folgen will: Weil die Sätze kürzer werden, wird unsere Verant­wortung größer.

Quellen:

  1. Arjun Panickssery: "Why Have Sentence Lengths Decreased?", LessWrong, 3. April 2025 (Wayback­Machine, abgerufen am 27. Mai 2025)

  2. Christian Weber: "Wieso wir auch in Zukunft Bücher lesen sollten", Süddeutsche Zeitung 28. Mai 2025 (Bezahl­schranke)

  3. Mark Liberman: "Real trends in word and sentence length", Language Log, 31. Oktober 2011 (abgerufen am 27. Mai 2025)

  4. Martin Spiewak: "Die Leselust wird nicht gefördert", DIE ZEIT Nr. 18/2025, aktu­a­lisiert am 5. Mai 2025 (Bezahl­schranke, abgerufen am 27. Mai 2025)

  5. OECD: "Programme for the Inter­na­tional Assessment of Adult Compe­tencies (PIAAC)" (abgerufen am 28. Mai 2025)

  6. European Asso­ciation for the Education of Adults: "New PIAAC results show declining literacy and increasing inequality in many European countries", 11. Dezember 2024 (abgerufen am 28. Mai 2025)

  7. Jeanette Skowronek, Andreas Seifert & Sven Lindberg: "The mere presence of a smartphone reduces basal atten­tional performance", 8. Juni 2023 (abgerufen am 29. Mai 2025)

Herz­lichen Dank an Dr. Hermann Iding für den anre­genden Diskurs und den Hinweis auf mehrere der hier verwendeten Quellen – beides hat maßgeblich zu diesem Beitrag beige­tragen.