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Buchbesprechung

Lesen im digitalen Zeitalter

Rudolf Paulus Gorbach
3. August 2022
Nein, dieses Buch jammert nicht darüber, dass dank der Computer immer weniger gelesen wird. Ganz im Gegenteil. Das Unbehagen am digitalen Lesen ist unbe­gründet. Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Gerhard Lauer geht dem auf den Grund und beginnt gleich mit dem uns Menschen inne­woh­nenden Hunger nach Geschichten.

Kritik an den Medien gibt es, seit es Medien gibt, und sie wird immer dann lauter, wenn etwas Neues hinzukommt. Das beginnt mit Platons Kritik am neuen Medium Schrift. Um 1500 wurde beklagt, dass das sorgsam gehütete Herr­schafts­wissen durch das Buch verbreitet werde (gegen Erasmus von Rotterdams kommen­tierte Zita­ten­sammlung »Adagia«). Und das beherrschte auch die Diskus­sionen der Frühen Neuzeit: Wer durfte die Bücher überhaupt lesen und vor allem die Texte als »Gottes Wort« auslegen? Doch im 18. Jahr­hundert kam es zu einem (bürger­lichen) Sturm auf die Literatur und gleich­zeitig zu einer Kritik am Lesen von Romanen. Am Ende des 20. Jahr­hunderts kam eine starke Tech­nik­kritik hinzu, viel­leicht erleichtert durch flim­mernde Bild­schirme. Das Ende der Bücher und des Lesens wurde prophezeit. Und heute wird mehr gelesen denn je, und Bücher gibt es immer noch. Aber gelesen wird in vielen anderen Bereichen und Kanälen.

Lauer zitiert den Kultur­phi­lologen Theodor Lessing, der 1932 von der »Aufpeppung des Lebens« durch neue Medien außerhalb des Buches sprach, wendet sich gegen Behaup­tungen vom Verfall der Intel­ligenz im Zeitalter von Computer und Internet oder von der Verrohung der Jugend. Der Autor holt weit aus, analysiert und zitiert zahl­reiche Studien zur Medi­en­nutzung, bezieht populäre Literatur oder den Spie­le­bereich mit ein. Selbst die Verein­samung vor den digitalen Geräten lässt Lauer nicht gelten und erläutert dies ausführlich.

Unsere Sprache wird in der modernen Welt reicher, wenn auch manchmal anders. In vielen Studien der Lese­for­schung, bevor es Computer und Internet gab, ging der Anteil der Leser – vor allem nach Einführung des Fern­sehens – leicht zurück. Seit 2009 gibt es positive Signale für die Lese­be­reit­schaft. Das betrifft aber längst nicht mehr nur die Print­medien. Die Unter­schiede sind groß. Während in den USA die Nichtleser etwa die Hälfte der Bevöl­kerung ausmachen, sind es in Deut­schland nur etwa ein Viertel der Gesell­schaft.

Der bisherige Lite­ra­tur­betrieb wird sich verändern. Die sehr große Gruppe der Self-Publisher behauptet sich gegenüber den etablierten Verlagen. Wobei das Selber­machen auch sehr kritisch zu sehen ist (kritischer als der Autor). Selber­machen bedeutet in der Regel Dilet­tan­tismus und so sieht es leider fast immer aus. Aber das wird den Trend nicht aufhalten. Die Digi­ta­li­sierung des Drucks erlaubt sehr viel, alles ist in kleinem Rahmen möglich, vom Manu­skript zur Produktion bis zur Vermarktung.

Dass gelungenes Lesen auch von einer guten Typo­grafie und Schrift­wie­dergabe abhängt, wird in diesem Buch leider nicht erwähnt. Das 262 Seiten starke Buch, das ich für diese Rezension gelesen habe, ist auf sehr weißem Papier gedruckt, vermutlich digital. Die Farben sind nicht einheitlich. Wen stört das? (Unser Dilemma bei der Suche nach optimaler Lesbarkeit ist ja, dass mäßige Qualität nicht ins Bewusstsein des Lesers dringt).

Weit in die Gesell­schaften und in die modernen Techniken hinein holt Lauer in den letzten Kapiteln aus. Manchmal meinte ich, eine gewisse Euphorie über die vielen Möglich­keiten zu hören, die sich allen sozialen Schichten im Zusam­menhang mit der Medi­en­nutzung bieten. Die Kritik folgt eher leise. Wer sich über den typo­gra­fischen Bereich der Lesbarkeit und Verständ­lichkeit hinaus über die großen und entschei­denden Zusam­menhänge infor­mieren will, sollte das Buch trotz seiner manchmal ausufernden Tendenz lesen.

Übrigens zitiert bzw. repro­duziert die Umschlag­ge­staltung einen Halb­ge­we­beband, also ein ganz klas­sisches tradi­ti­o­nelles Buch.

Gerhard Lauer
Lesen im digitalen Zeitalter
264 Seiten 
135 × 215 mm
wbg Academic, Darmstadt 2020
Band 1 der Reihe
»Geis­tes­wis­sen­schaften im digitalen Zeitalter«
ISBN 978–3–534–26854–2
20 Euro

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