Lesen im digitalen Zeitalter
Kritik an den Medien gibt es, seit es Medien gibt, und sie wird immer dann lauter, wenn etwas Neues hinzukommt. Das beginnt mit Platons Kritik am neuen Medium Schrift. Um 1500 wurde beklagt, dass das sorgsam gehütete Herrschaftswissen durch das Buch verbreitet werde (gegen Erasmus von Rotterdams kommentierte Zitatensammlung »Adagia«). Und das beherrschte auch die Diskussionen der Frühen Neuzeit: Wer durfte die Bücher überhaupt lesen und vor allem die Texte als »Gottes Wort« auslegen? Doch im 18. Jahrhundert kam es zu einem (bürgerlichen) Sturm auf die Literatur und gleichzeitig zu einer Kritik am Lesen von Romanen. Am Ende des 20. Jahrhunderts kam eine starke Technikkritik hinzu, vielleicht erleichtert durch flimmernde Bildschirme. Das Ende der Bücher und des Lesens wurde prophezeit. Und heute wird mehr gelesen denn je, und Bücher gibt es immer noch. Aber gelesen wird in vielen anderen Bereichen und Kanälen.
Lauer zitiert den Kulturphilologen Theodor Lessing, der 1932 von der »Aufpeppung des Lebens« durch neue Medien außerhalb des Buches sprach, wendet sich gegen Behauptungen vom Verfall der Intelligenz im Zeitalter von Computer und Internet oder von der Verrohung der Jugend. Der Autor holt weit aus, analysiert und zitiert zahlreiche Studien zur Mediennutzung, bezieht populäre Literatur oder den Spielebereich mit ein. Selbst die Vereinsamung vor den digitalen Geräten lässt Lauer nicht gelten und erläutert dies ausführlich.
Unsere Sprache wird in der modernen Welt reicher, wenn auch manchmal anders. In vielen Studien der Leseforschung, bevor es Computer und Internet gab, ging der Anteil der Leser – vor allem nach Einführung des Fernsehens – leicht zurück. Seit 2009 gibt es positive Signale für die Lesebereitschaft. Das betrifft aber längst nicht mehr nur die Printmedien. Die Unterschiede sind groß. Während in den USA die Nichtleser etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sind es in Deutschland nur etwa ein Viertel der Gesellschaft.
Der bisherige Literaturbetrieb wird sich verändern. Die sehr große Gruppe der Self-Publisher behauptet sich gegenüber den etablierten Verlagen. Wobei das Selbermachen auch sehr kritisch zu sehen ist (kritischer als der Autor). Selbermachen bedeutet in der Regel Dilettantismus und so sieht es leider fast immer aus. Aber das wird den Trend nicht aufhalten. Die Digitalisierung des Drucks erlaubt sehr viel, alles ist in kleinem Rahmen möglich, vom Manuskript zur Produktion bis zur Vermarktung.
Dass gelungenes Lesen auch von einer guten Typografie und Schriftwiedergabe abhängt, wird in diesem Buch leider nicht erwähnt. Das 262 Seiten starke Buch, das ich für diese Rezension gelesen habe, ist auf sehr weißem Papier gedruckt, vermutlich digital. Die Farben sind nicht einheitlich. Wen stört das? (Unser Dilemma bei der Suche nach optimaler Lesbarkeit ist ja, dass mäßige Qualität nicht ins Bewusstsein des Lesers dringt).
Weit in die Gesellschaften und in die modernen Techniken hinein holt Lauer in den letzten Kapiteln aus. Manchmal meinte ich, eine gewisse Euphorie über die vielen Möglichkeiten zu hören, die sich allen sozialen Schichten im Zusammenhang mit der Mediennutzung bieten. Die Kritik folgt eher leise. Wer sich über den typografischen Bereich der Lesbarkeit und Verständlichkeit hinaus über die großen und entscheidenden Zusammenhänge informieren will, sollte das Buch trotz seiner manchmal ausufernden Tendenz lesen.
Übrigens zitiert bzw. reproduziert die Umschlaggestaltung einen Halbgewebeband, also ein ganz klassisches traditionelles Buch.
Gerhard Lauer
Lesen im digitalen Zeitalter
264 Seiten
135 × 215 mm
wbg Academic, Darmstadt 2020
Band 1 der Reihe
»Geisteswissenschaften im digitalen Zeitalter«
ISBN 978–3–534–26854–2
20 Euro
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