Interpretation mit Eigenleben


Franziska Weitgruber sprach am 7. Oktober beim Hybrid-Vortrag über ihren konzeptionellen Zugang zur Schriftgestaltung. Ihr Ausgangspunkt ist bescheiden, aber programmatisch: Zufriedenheit als Arbeitshypothese: »In dieser relativ langen Geschichte geht es um die Zufriedenheit oder eben Unzufriedenheit und das Weitersuchen«. Kritik also nicht als Pose, sondern als Praxis. Schauen wir also, ob ihr das im Vortrag gelang.
Referenzen als operative Handlung
Weitgruber nutzt historische Schriften nicht als Kopier-Vorlage, sondern als Werkzeug. Das erklärte sie anhand der Geschichte der Veronese von Monotype: William Morris inspirierte sich von Nicolas Jensons alter venezianischer Schrift und schuf die Golden Type – nicht als treue Kopie, sondern mit bewussten Veränderungen, kräftiger und eigenständiger. Jahre später erschuf Monotype ebenfalls eine Schrift auf Grundlage der Sehrift von Jensons und orientierte sich dabei auch an Morris’ Golden Type. Die Veronese wurde jedoch für die industrielle Massenproduktion rationalisiert, mit schärferen Serifen und sauberen Linien.
Das ist ihr Arbeitsraum: Ihr Masterprojekt Nikolai begann sie ursprünglich wiederum als Revival der Veronese – gut recherchiert, loyal umgesezt. Dann sah sie (niedrig aufgelöste) Online-Proben eines Jensen-Modells der italienischen Gießerei Nebbiolo. Eine »Wildheit« in diesen pixeligen Formen faszinierte sie so sehr, dass sie das Revival der Veronese schießlich aufgab. Aus der historischen Rekonstruktion wurde eine Schriftfamilie mit hohem Kontrast und exzentrischen, teilweise völlig neuen Formen. Die Vergangenheit war nicht mehr Verpflichtung, sondern Antrieb.



Material statt Kontur
»Wir zeichnen eigentlich über die Outline, aber am Ende … ist es das Material. Es ist ein schwarzer Buchstabe in den meisten Fällen. Deshalb macht es doch Sinn, wenn wir auch den Buchstaben selbst aus dem Material heraus bauen, gestalten.«
Standardmäßig entsteht Schrift am Computer von außen nach innen: von der Outline zur Fläche, von der Kontur zur Form. Franziska Weitgruber kehrt diesen Prozess um. Für sie entsteht Form nicht durch Umriss, sondern durch das Verhältnis von Schwarz und Weiß, von Positiv und Negativ. In ihrer Black-Square-Methode verzichten die Studierenden auf die klassische Outline-Zeichnung. Sie beginnen mit einem Quadrat, beispielsweise ein schwarzer Karton oder Linoleum – und entfernen Stück für Stück Material, bis sich die Letter zeigt. Form wird also nicht addiert, sondern freigelegt. Schriftgestaltung wird so zur Wahrnehmungsschulung.
Diese materialbasierte Haltung wurde in ihrem Masterprojekt Kaligari an der KABK Den Haag zur Systematik. Die Kursive verbindet Sans und Serif nicht stilistisch, sondern konzeptionell – inspiriert vom expressionistischen Holzschnitt, von der Spur des Werkzeugs. So entsteht eine »Werkzeugkiste« harmonierender Stile.


Unfertigkeit und Unvollkommenheit
»Man muss sich irgendein Regelwerk zurechtlegen, ansonsten ist es natürlich eine unendliche Geschichte.« Ein Regelwerk mit Spielraum, das Wandel zulässt: Breitenachsen, Gewichte, Module. Auf Future Fonts veröffentlicht Franziska Weitgruber einige Schriften vorab, bevor sie fertig sind. Käufer:innen werden Teil des Entwicklungsprozesses. Unvollkommenheit wird Methode – ökonomisch wie gestalterisch.
Gemeinsam mit Michele Galluzzo gründete Weitgruber 2020 das Studio Fantasia Type – benannt nach einer Schriftgattung in Aldo Novareses’ Klassifikationssystem. Auch hier ist der Prozess wichtiger als die Perfektion. Die Brass entstand aus Galluzzos Pinsel-Experimenten und der filmischen Ästhetik von Tinto Brass. Beim digitalen Rotieren der Pinsel entstanden unbeabsichtigte Glitches. Statt diese zu löschen machte Weitgruber die charakteristische Asterisk-Formen zur Grundlage der Schrift.
Doch der Kontext blieb stets kritisch mitgedacht. Tinto Brass’ Filme wurden schon seinerzeit wegen der Darstellung von Frauenkörpern und Sexualität kritisiert. Um heute nicht unbewusst problematische Ästhetiken zu reproduzieren, wurde das Specimen – eine Schriftmusterpublikation, auf der die Brass-Schrift in verschiedenen Größen und Varianten gezeigt wird – bewusst begleitet: mit Essays und Interviews mit Frauen aus der Kreativbranche, die sein Werk aus einer feministischen Perspektive diskutieren. Ein Versuch, Kontroversen nicht zu meiden, sondern ihnen mit Bewusstsein und Haltung zu begegnen.
»Und in dem Sinne möchte ich euch auch wünschen, dass ihr, auch wenn mal was schief geht: seht es als Happy Accidents. Also Mut auch zum Fehler, Mut zur Hässlichkeit.«
Es ist eine bewusste Entscheidung, Fehler nicht sofort zu verwerfen. Fehler sind nicht immer Makel, sondern manchmal auch Material. Während andere ein missratenes Ergebnis in den Papierkorb werfen, sucht Weitgruber Möglichkeiten. Wo liegt die Schönheit im Ungeplanten?
Dieser Antrieb zeigt sich in all ihren Projekten: Baustraße befragt kritisch die Bauhaus-Mania der 60er Jahre. Dudler entstand aus der spontanen Faszination für ein Lastwagen-Logo. Roba experimentiert mit unerwarteten Kontrasten und Breitenproportionen. Jede Schrift entsteht zunächst nicht als Auftrag, sondern aus Neugier oder Unzufriedenheit. Vielleicht ist das der eigentliche Impuls ihres Arbeitens: Gestaltung als fortgesetzte Korrektur der eigenen Zufriedenheit.


Form gefunden – vorläufig
Franziska Weitgruber zeigt, dass Schriftgestaltung weit mehr ist als Stil oder visuelles Design. Nämlich ein Denkprozess. Ein bewusstes Nachdenken über Form, Material und Haltung. Zufriedenheit und Unzufriedenheit sind hier weniger Ergebnis als Antrieb.
Der Vortrag fand große Resonanz. Besucher:innen waren begeistert von Weitgrubers Leidenschaft und ihrer Art, komplexe Designprozesse verständlich zu machen. Schade waren lediglich die technischen Verzögerungen zu Beginn und die Tonprobleme während der Moderation. Wir arbeiten daran, solche Pannen beim nächsten Mal zu vermeiden.
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