typographische
zitate
Typo­grafie kann unter keinen Umständen Kunst sein.
Rudolf Paulus Gorbach

Typographische
Gesellschaft
München e. V.

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Event

Interpretation mit Eigenleben

Michi Bundscherer
16. Oktober 2025
Was passiert, wenn ein Revival nicht bei der Vorlage stehen­bleibt? Franziska Weit­gruber beginnt mit histo­rischen Schriften, expe­ri­mentiert mit Material und geht dann eigene Wege. Ein Vortrag über Revivals und Inspi­ration, über produktive Unzu­frie­denheit, Fehler als Methode und die Kunst des Loslassens.

Franziska Weit­gruber sprach am 7. Oktober beim Hybrid-Vortrag über ihren konzep­ti­o­nellen Zugang zur Schrift­ge­staltung. Ihr Ausgangspunkt ist bescheiden, aber program­matisch: Zufrie­denheit als Arbeits­hy­pothese: »In dieser relativ langen Geschichte geht es um die Zufrie­denheit oder eben Unzu­frie­denheit und das Weiter­suchen«. Kritik also nicht als Pose, sondern als Praxis. Schauen wir also, ob ihr das im Vortrag gelang.

Refe­renzen als operative Handlung

Weit­gruber nutzt histo­rische Schriften nicht als Kopier-Vorlage, sondern als Werkzeug. Das erklärte sie anhand der Geschichte der Veronese von Monotype: William Morris inspi­rierte sich von Nicolas Jensons alter vene­zi­a­nischer Schrift und schuf die Golden Type – nicht als treue Kopie, sondern mit bewussten Verän­de­rungen, kräftiger und eigen­ständiger. Jahre später erschuf Monotype ebenfalls eine Schrift auf Grundlage der Sehrift von Jensons und orien­tierte sich dabei auch an Morris’ Golden Type. Die Veronese wurde jedoch für die indus­trielle Massen­pro­duktion rati­o­na­lisiert, mit schärferen Serifen und sauberen Linien.

Das ist ihr Arbeitsraum: Ihr Master­projekt Nikolai begann sie ursprünglich wiederum als Revival der Veronese – gut recher­chiert, loyal umgesezt. Dann sah sie (niedrig aufgelöste) Online-Proben eines Jensen-Modells der italie­nischen Gießerei Nebbiolo. Eine »Wildheit« in diesen pixeligen Formen faszi­nierte sie so sehr, dass sie das Revival der Veronese schießlich aufgab. Aus der histo­rischen Rekon­struktion wurde eine Schrift­familie mit hohem Kontrast und exzen­trischen, teilweise völlig neuen Formen. Die Vergan­genheit war nicht mehr Verpflichtung, sondern Antrieb.

Material statt Kontur

»Wir zeichnen eigentlich über die Outline, aber am Ende … ist es das Material. Es ist ein schwarzer Buchstabe in den meisten Fällen. Deshalb macht es doch Sinn, wenn wir auch den Buch­staben selbst aus dem Material heraus bauen, gestalten.«

Stan­dardmäßig entsteht Schrift am Computer von außen nach innen: von der Outline zur Fläche, von der Kontur zur Form. Franziska Weit­gruber kehrt diesen Prozess um. Für sie entsteht Form nicht durch Umriss, sondern durch das Verhältnis von Schwarz und Weiß, von Positiv und Negativ. In ihrer Black-Square-Methode verzichten die Studie­renden auf die klas­sische Outline-Zeichnung. Sie beginnen mit einem Quadrat, beispielsweise ein schwarzer Karton oder Linoleum – und entfernen Stück für Stück Material, bis sich die Letter zeigt. Form wird also nicht addiert, sondern frei­gelegt. Schrift­ge­staltung wird so zur Wahr­neh­mungs­schulung.

Diese mate­ri­a­l­ba­sierte Haltung wurde in ihrem Master­projekt Kaligari an der KABK Den Haag zur Systematik. Die Kursive verbindet Sans und Serif nicht stilistisch, sondern konzep­tionell – inspiriert vom expres­sio­nis­tischen Holz­schnitt, von der Spur des Werkzeugs. So entsteht eine »Werk­zeugkiste« harmo­nie­render Stile.

Un­fer­tig­keit und Unvoll­­­kom­men­heit

»Man muss sich irgendein Regelwerk zurechtlegen, ansonsten ist es natürlich eine unendliche Geschichte.« Ein Regelwerk mit Spielraum, das Wandel zulässt: Brei­te­n­achsen, Gewichte, Module. Auf Future Fonts veröf­fentlicht Franziska Weit­gruber einige Schriften vorab, bevor sie fertig sind. Käufer:innen werden Teil des Entwick­lungs­pro­zesses. Unvoll­kom­menheit wird Methode – ökonomisch wie gestal­terisch.

Gemeinsam mit Michele Galluzzo gründete Weit­gruber 2020 das Studio Fantasia Type – benannt nach einer Schrift­gattung in Aldo Nova­reses’ Klas­si­fi­ka­ti­ons­system. Auch hier ist der Prozess wichtiger als die Perfektion. Die Brass entstand aus Galluzzos Pinsel-Expe­ri­menten und der filmischen Ästhetik von Tinto Brass. Beim digitalen Rotieren der Pinsel entstanden unbe­ab­sichtigte Glitches. Statt diese zu löschen machte Weit­gruber die charak­te­ris­tische Asterisk-Formen zur Grundlage der Schrift.

Doch der Kontext blieb stets kritisch mitgedacht. Tinto Brass’ Filme wurden schon seinerzeit wegen der Darstellung von Frau­en­körpern und Sexu­alität kritisiert. Um heute nicht unbewusst proble­ma­tische Ästhetiken zu repro­du­zieren, wurde das Specimen – eine Schrift­mus­ter­pu­bli­kation, auf der die Brass-Schrift in verschiedenen Größen und Varianten gezeigt wird – bewusst begleitet: mit Essays und Interviews mit Frauen aus der Krea­tiv­branche, die sein Werk aus einer femi­nis­tischen Perspektive disku­tieren. Ein Versuch, Kontro­versen nicht zu meiden, sondern ihnen mit Bewusstsein und Haltung zu begegnen.

»Und in dem Sinne möchte ich euch auch wünschen, dass ihr, auch wenn mal was schief geht: seht es als Happy Accidents. Also Mut auch zum Fehler, Mut zur Häss­lichkeit.«

Es ist eine bewusste Entscheidung, Fehler nicht sofort zu ver­werfen. Fehler sind nicht immer Makel, sondern manchmal auch Material. Während andere ein miss­ratenes Ergebnis in den Papierkorb werfen, sucht Weit­gruber Möglich­keiten. Wo liegt die Schönheit im Unge­planten?

Dieser Antrieb zeigt sich in all ihren Projekten: Baustraße befragt kritisch die Bauhaus-Mania der 60er Jahre. Dudler entstand aus der spontanen Faszi­nation für ein Lastwagen-Logo. Roba expe­ri­mentiert mit uner­warteten Kontrasten und Brei­ten­pro­por­tionen. Jede Schrift entsteht zunächst nicht als Auftrag, sondern aus Neugier oder Unzu­frie­denheit. Viel­leicht ist das der eigentliche Impuls ihres Arbeitens: Gestaltung als fort­ge­setzte Korrektur der eigenen Zufrie­denheit.

Form gefunden – vorläufig

Franziska Weit­gruber zeigt, dass Schrift­ge­staltung weit mehr ist als Stil oder visuelles Design. Nämlich ein Denk­prozess. Ein bewusstes Nach­denken über Form, Material und Haltung. Zufrie­denheit und Unzu­frie­denheit sind hier weniger Ergebnis als Antrieb.

Der Vortrag fand große Resonanz. Besucher:innen waren begeistert von Weit­grubers Leiden­schaft und ihrer Art, komplexe Desi­gnprozesse verständlich zu machen. Schade waren lediglich die tech­nischen Verzö­ge­rungen zu Beginn und die Tonprobleme während der Mode­ration. Wir arbeiten daran, solche Pannen beim nächsten Mal zu vermeiden.

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