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Die Forderung des Inhaltes an die Typo­grafie ist, dass der Zweck betont wird, zu dem der Inhalt gedruckt werden soll.
Kurt Schwitters

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Branche

kostenlos, für alle, für immer

Michi Bundscherer
4. November 2025
Attacke zur besten Sendezeit: Während Adobe gerade seine Konferenz MAX in Los Angeles beendet, setzt Canva einen gezielten Gegen­schlag: Die komplette Affinity-Suite wird ab sofort kostenlos – für alle, ohne Einschrän­kungen, angeblich für immer. Das Timing ist kein Zufall, es ist eine Kampf­ansage.
Eröffnungs-Screen beim neuen Affinity mit dem Text: „Melden Sie sich über Ihren Browser bei Canva an und wir bringen Sie direkt hierher zurück“
Eröffnungsbild beim ersten Start der neuen Affinity-App auf MacOS.

Gezielt platziert

Die Vorstellung des neuen Affinity, exakt zum Ende der Adobe MAX, ist weit mehr als ein gewöhn­liches Software-Update: Affinity Designer (Vektor­grafik), Affinity Photo (Bild­be­a­r­beitung) und Affinity Publisher (Layout), bislang drei eigen­ständige Programme, werden in einer neuen Anwendung gebündelt – und künftig voll­ständig kosten­los bereit­ge­stellt. Eine iPad-Version ist für 2026 ange­kündigt.

Zeit­gleich wurde ein neues Datei­format eingeführt: ».af« ersetzt die bisherigen Endungen .afdesign, .afphoto und .afpub. Beste­hende Dateien lassen sich öffnen, neue jedoch nicht in älteren Versionen bear­beiten.

Die Nutzung erfordert einen kostenlosen Canva-Account. KI-Funk­tionen wie Freistellen, Erweitern oder Gene­rieren, sowie erwei­terter Cloud-Speicher oder Online-Support bleiben Premium-Mitgliedern vorbe­halten (Canva Pro kostet in Deut­schland 12 € im Monat oder 110 € pro Jahr, der neuen Business-Tarif 160 € pro Jahr).

Mone­ta­risiert wird später

Profes­sionell nutzbar, einmalig bezahlt, lokal installiert: Affinity galt schon bisher als Gegen­entwurf zur allge­gen­wärtigen Adobe Cloud. Eine Software für Gestaltende, die Unab­hän­gigkeit suchten, vom Abo-Zwang, von der Preislogik, von der Mono­kultur eines Groß­konzerns. Auch bei der tgm gab es schon Workshops zu Affinity. Doch trotz über­zeu­gender Argumente blieb das System eine Nische – ein Werkzeug eher für Idealist:innen, weniger für die breite Masse.

Canva stand für das Gegenteil: Gestaltung als Massen­phänomen. Brow­ser­basiert, templa­te­ge­trieben, nied­rig­schwellig. Ein Werkzeug, das Design weiter demo­kra­ti­sierte – aber auch stan­dar­di­sierte. Beliebt in Schulen, Vereinen, Marke­tin­g­ab­tei­lungen und interner Kommu­ni­kation. Doch eher selten ernst genommen im profes­si­o­nellen Umfeld.

Mit der Übernahme von Serif / Affinity durch Canva 2024, ver­schmol­zen diese Welten. Affinity liefert die Werkzeuge, Canva die Infra­­struktur.
Das Geschäfts­modell scheint clever: Profes­si­onelle Designer:innen gestalten mit kostenloser Software, mone­ta­risiert wird später – bei Zusam­me­n­arbeit, Cloud-Spei­cherung, Marken­ver­waltung, KI-Funk­tionen. Die Wert­schöpfung liegt im Übergang von der Kreation zur Verbreitung. Canva posi­tioniert sich damit als Infra­s­truktur, die Gestaltung, Produktion und Veröf­fent­lichung eng verzahnt. Mit über 200 Millionen Nutzer:innen sieht sich Canva gut aufge­stellt, dieses Modell weltweit zu skalieren.

Das Ende der Adobe-Dominanz?

Schon vor dem Relaunch galt Affinity als ernst­zu­nehmende Alter­native. Jetzt fällt die Preis­barriere. Free­lancer:innen, junge Gestalter:innen, kleine Studios erhalten ein profes­si­o­nelles Werkzeug zum Nulltarif – für immer.

Doch »forever« ist in der Soft­wa­rewelt ein großes Wort. Geschäfts­modelle ändern sich, Versprechen ebenso. Serif selbst twitterte noch 2022 »Ain’t nobody acquiring us 😎« – eineinhalb Jahre später gehörte das Unter­nehmen zu Canva.

Die Erfahrung lehrt, kostenlos ist selten (dauerhaft) umsonst. Die Soft­wa­re­­­ge­schichte kennt dieses Muster: Ist die Kundenbasis erst gebunden, folgt häufig die Mone­ta­ri­sierung. Doch wenn ein CEO auf der Bühne verspricht, die Anwendung bleibe »für immer« kostenlos, dann hat das Gewicht.

Wie auch immer: Seit der Übernahme zeigt sich Affinity ambi­tio­nierter denn je. Wenn Canva diesen Kurs hält, könnte das ein Wendepunkt sein – vergleichbar mit Adobes Aufstieg Anfang der 2000er-Jahre. Damals übernahm Adobe das von Aldus entwi­ckelte Programm »K2«, brachte es als InDesign neu auf den Markt und stieß damit QuarkXPress vom Thron: durch tech­nische Offenheit, bessere Inte­gration, kunden­freund­li­cheren Service und einen damals deutlich güns­tigeren Preis.

Ob sich die Geschichte mit vertauschten Rollen wiederholt, bleibt offen. Sicher ist nur: Der Zugang zu profes­si­o­neller Krea­tivsoftware war noch nie so nied­rig­schwellig wie jetzt. Die kommenden Monate werden zeigen, was daraus entsteht.

Zum Ankün­di­gungsvideo auf YouTube: »Ash Hewson stellt die neue Affinity-Keynote bei Canva vor.«

Weitere Infos u. a. im Desi­gnta­gebuch und bei Heise.

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