Barrierefreiheit – warum Sie jetzt handeln müssen
In Deutschland werden die Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit künftig deutlich erweitert. Neue gesetzliche Regelungen verpflichten alle Anbieter digitaler Inhalte dazu, ihre Webseiten, Anwendungen und PDFs barrierefrei zu gestalten.
Diese Änderungen basieren auf dem novellierten Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), dem European Accessibility Act (EAA) und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0). Das Behindertengleichstellungsgesetz gilt zwar bereits seit 2002, aber die neuen Bestimmungen bringen strengere Anforderungen und Sanktionen mit sich: Das Barrierefreiheitstärkungsgesetz (BFSG) wird diese Anforderungen ab dem 28. Juni 2025 weiter konkretisieren und deren Einhaltung sicherstellen.
Die Bedeutung für die Kreativbranche
Hersteller und Dienstleister sind künftig verpflichtet, ihre Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Dies umfasst sowohl digitale als auch physische Angebote wie Smartphones, Selbstbedienungsgeräte, E-Commerce und Kommunikationsdienste … Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen eine uneingeschränkte Nutzung dieser Angebote zu ermöglichen. Kleinere Unternehmen können jedoch unter bestimmten Bedingungen von einigen Anforderungen ausgenommen sein.
Für Webdesigner·innen, UX/UI-Designer·innen, Frontend-Entwickler·innen sowie ihre Auftraggeber·innen und Dienstleister·innen könnte die neue Gesetzeslage tiefgreifende Anpassungen ihrer Arbeitsweisen bedeuten.
Doch die zunehmende Fokussierung auf Barrierefreiheit betrifft nicht nur den Screen-Bereich. Unabhängig vom BFSG steigen auch im Print-Bereich die Anforderungen an barrierefreie Gestaltung. Zugänglichkeit für alle wird in sämtlichen Bereichen immer wichtiger – ob online oder offline. Eine Studie des Instituts für Corporate Communication & Identity (CCI) der Hochschule RheinMain zeigt, dass in den Geschäftsberichten der 40 größten deutschen Unternehmen Barrierefreiheit bisher noch eine untergeordnete eine Rolle spielt.
Doch die Anforderungen an Barrierefreiheit entwickeln sich dynamisch weiter. Unternehmen und Dienstleister, die sich jetzt intensiv mit Barrierefreiheit auseinandersetzen, werden besser auf die wachsenden Anforderungen vorbereitet sein.
Besonders relevant halten wir dabei drei wesentliche Aspekte:
Technische Standards: Anbieter·innen müssen sich an aktualisierte Richtlinien halten, die spezifische Anforderungen an die Zugänglichkeit festlegen – beispielsweise die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1).
Barrierefreie Gestaltung: Webseiten und Anwendungen müssen so konzipiert sein, dass sie für alle Nutzer·innen zugänglich sind – unabhängig von physischen oder technischen Einschränkungen.
Einfache Sprache: Inhalte sollen klar und verständlich formuliert sein, um eine breite Nutzergruppe anzusprechen – einschließlich Menschen mit kognitiven Einschränkungen.
Warum ist das wichtig?
Barrierefreiheit als gesellschaftlicher Mehrwert
Jeder von uns ist schon auf Barrieren gestoßen, sei es durch Sprachbarrieren im Urlaub, durch eine vorübergehende Verletzung, während der Betreuung von kleinen Kindern, durch komplizierte Bürokratie, durch technologische Hürden, altersbedingt oder aus anderen Gründen. Barrierefreie Angebote sind für alle Menschen von Vorteil und wichtig: Sie ermöglichen es jederzeit, gleichberechtigt am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen, sich zu informieren, zu kommunizieren, mitzubestimmen …
Designer·innen und Kommunikator·innen, die sich mit Leichter Sprache und klarer Gestaltung beschäftigen, verbessern die Zugänglichkeit für spezifische Zielgruppen und steigern zugleich den Lesekomfort für alle. Denn eine klar strukturierte Gestaltung macht Informationen für alle verständlicher und leichter zugänglich und unterstützt damit das zentrale Ziel der Typografie: Informationen zugänglich zu machen.
Dabei ist es wichtig, nicht den Fehler zu begehen, Leichtigkeit mit formaler Einfachheit zu verwechseln. Manchmal wird fälschlicherweise angenommen, dass eine minimalistische oder gar fehlende Gestaltung automatisch barrierefrei ist. Doch Typografie-Profis wissen: Eine übermäßige Reduktion der Gestaltungselemente erschwert die Leserlichkeit eher, statt sie zu verbessern. Eine sorgfältig durchdachte Gestaltung unterstützt das Verständnis und ermöglicht einen besseren Zugang zu den Inhalten.
Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach betonen in ihrem Buch »Gutes Design für Leichte Sprache« (Seite 24):
»Die Form eines Textes ist keine Barriere, die man aus dem Weg zu räumen hat, um den Weg freizugeben auf den Inhalt. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine enorme Stütze, die uns hilft, überhaupt erschließen zu können, was ein Text uns sagen will. Textgestaltung ist Sinngestaltung.«
Eine Gesellschaft besteht aus einer Vielfalt von Individuen, und es gibt keinen vorgegebenen Standard, dem sich »die Anderen« anpassen müssen. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen mit ihren individuellen Unterschieden einbezogen werden – Inklusion ist ein Ausdruck von Haltung und Überzeugung.
Das Prinzip der Angemessenheit
Bei der Gestaltung von Informationen, insbesondere in der Barrierefreiheit und Leichten Sprache, sollte ein zentrales Konzept jedoch nicht übersehen werden: das Prinzip der Angemessenheit. Dieses Prinzip, das aus der Rhetorik stammt, fordert, dass ein Text nicht nur technisch zugänglich ist, sondern auch inhaltlich klar und passend gestaltet wird. Die Linguistin Bettina M. Bock betont, dass die Gestaltung eines Textes stets abgestimmt sein sollte auf: Adressat, Situationen, Inhalt, Funktion und Sender.
Internationale Standards als Maßstab
Viele Länder setzen bereits erfolgreich Richtlinien zur Barrierefreiheit um, darunter die USA [1, 2], Kanada [3], Großbritannien [4, 5], Australien [6, 7] und Norwegen [8].
Diese Länder fungieren als Vorbilder für die Umsetzung barrierefreier Designs, die über die bloße Erfüllung gesetzlicher Vorgaben hinausgehen und ein grundlegendes ethisches Engagement für Inklusion zeigen. Ein besonders inspirierendes Beispiel ist Brasilien: Dort werden Gehörlose weniger als »behindert«, sondern vielmehr als Teil einer »sprachlichen Minderheit« betrachtet. Avatare in Gebärdensprache auf Flughafenmonitoren und die Möglichkeit des Abiturs in brasilianischer Gebärdensprache sind Zeugnisse einer umfassenden Inklusion. Auch die Zahl der hörenden Brasilianer, die die Gebärdensprache beherrschen, wächst stetig. [9, 10, 11]
In Deutschland sind beispielsweise nur etwa 50 % der Städte und Gemeinden teilweise oder vollständig barrierefrei – in Norwegen und den USA nahezu 100 %. In den Arbeitsmarkt sind nur knapp 50 % [12] der schwerbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter integriert (selbst in den USA sind es etwa 60 %). Auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD) ist in Deutschland peinlicherweise unzureichend [PDF, 13].
Das österreichische Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) schreibt vor, dass alle öffentlich zugänglichen Einrichtungen (z.B. Hotels, Gaststätten, Ausflugsziele, Museen etc.) barrierefrei zu gestalten sind. Auch für Verkehrsmittel und Systeme der Informationsverarbeitung und -vermittlung, wie z.B. Websites, wurden bereits Regelungen getroffen.
Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland also in allen relevanten Bereichen leider deutlich hinterher. Wünschenswert ist jedoch, dass wir uns an den Standards anderer Länder orientieren, auch die in Europa vorhandenen Richtlinien integrieren, um auch hier international als innovativer und verantwortungsvoller Akteur wahrgenommen zu werden.
Gesellschaftliche Verantwortung und unternehmerische Chancen
Unternehmen und Organisationen haben nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern auch eine ethische Verpflichtung, alle Menschen einzubeziehen. Barrierefreie Angebote sind nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern auch moralisch wichtig und richtig. Sie tragen zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft bei.
Verbesserte Nutzererfahrung
Barrierefreies Design kommt allen Nutzern zugute. So sind klar strukturierte und einfach zu bedienende Produkte und Dienstleistungen (z.B. Computer, Smartphones, Fernseher, öffentliche Verkehrsdienste, Bankdienstleistungen, E-Books, elektronischer Handel und mehr) für alle angenehmer und intuitiver zu erfahren.
Erschließung neuer Zielgruppen
Durch Barrierefreiheit wird eine breitere Zielgruppe erreicht. Dies eröffnet neue Marktchancen und stärkt die Kundenbindung.
Image und Wettbewerbsfähigkeit
Unternehmen, die barrierefreie Angebote bereitstellen, verbessern ihr Image und ihre Reputation. Sie positionieren sich als verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Akteure und heben sich so von der Konkurrenz ab.
Inklusion und Barrierefreiheit: jeder profitiert
In Deutschland leben etwa 7,8 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, das ist also fast jeder Zehnte. Laut dem Statistischen Bundesamt waren 57 % der Menschen mit Behinderung im Alter von 15 bis 64 Jahren im Jahr 2019 berufstätig oder suchten nach einer Tätigkeit.
Dabei bestehen Behinderungen vergleichsweise selten seit Geburt, meist entstehen sie im fortgrschrittenen Alter – häufig durch eine Krankheit verursacht.
Von Barrierefreiheit und Inklusion profitieren jedoch viele weitere Gruppen: ältere Menschen, Eltern mit kleinen Kindern, Menschen mit vorübergehenden Beeinträchtigungen, Menschen mit geringer technischer Erfahrung, Nutzer mit langsamen Internetverbindungen, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Nutzer, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, Menschen, die gerade einfach müde sind … Selbst Menschen ohne Benachteiligungen profitieren letztlich von klar strukturierten und gut zugänglichen Inhalten.
Kurzum: Barrierefreiheit und Inklusion sind nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern bringen zahlreiche Vorteile für jeden Einzenen von uns mit sich: Eine durchdachte barrierefreie Gestaltung verbessert die Benutzerfreundlichkeit insgesamt, verschafft Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil, stärkt Reputation und Vertrauen und fördert die Innovationskraft. Zudem minimiert sie das Risiko rechtlicher Konsequenzen und erhöhter Bußgelder.
Jetzt weiterbilden: So geht’s
Die bevorstehenden gesetzlichen Änderungen eröffnen eine einmalige Gelegenheit, sich auf diesem wachsenden Gebiet zu spezialisieren. Nutzen Sie die Zeit bis 2025, um sich fortzubilden und Ihre Kenntnisse zu vertiefen. Hier einige Schritte, die Sie jetzt unternehmen sollten:
Schulungen, Workshops, Vorträge: Die Typographische Gesellschaft München bietet ein umfangreiches Programm an Expertenvorträgen und Fortbildungen mit namhaften Referenten, die Ihnen die Grundlagen von Barrierefreiheit, Inklusion und Leichter Sprache vermitteln. Nutzen Sie diese Angebote, um sich auf die kommenden Anforderungen vorzubereiten. Interessante Termine sind beispielsweise:
5 Fachvorträge: Inklusives Kommunikationsdesign für Leichte Sprache (als Gesamptpaket)
Abendkurs: Leichte Sprache und barrierearmes Design
Online-Kurs: Barrierefrei publizieren mit InDesign-PDFs
Abendkurs: Digital-Projekte sicher steuern und umsetzen
Leichte Sprache für Gestalter·innen: Ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Typographischen Gesellschaft München entsteht unter der Leitung von Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach das Fachbuch »Gutes Design für Leichte Sprache. Eine Einführung für Anwender:innen« (ISBN 978–3–8252–6307–2). Das Buch behandelt u.a. Themen wie einfache Sprache, barrierefreie Typografie und Gestaltung sowie Tipps für barrierefreie PDFs aus Adobe InDesign und Microsoft Word. Es erscheint im Herbst 2024 bei utb als Print- und eBook-Ausgabe.
Netzwerken: Knüpfen Sie Kontakte zu Kolleg·innen und Expert·innen in der Typographischen Gesellschaft München, um Best Practices und Erfahrungen auszutauschen. Abonnieren Sie unseren Newsletter und folgen Sie uns in den sozialen Medien, um stets auf dem Laufenden zu sein!
Fazit
Die neuen gesetzlichen Anforderungen zur Barrierefreiheit sind weit mehr als nur eine bürokratische Hürde. Sie bieten die Chance, Ihre Fähigkeiten zu erweitern und sich als Expert·in in einem zukunftsweisenden Bereich zu positionieren. Indem Sie sich jetzt weiterbilden, sichern Sie nicht nur Ihre berufliche Zukunft, sondern leisten auch einen wertvollen Beitrag zu einer inklusiveren und gerechteren digitalen Welt.
Setzen Sie Ihre gestalterischen Fähigkeiten gezielt ein – denn gute Gestaltung ist immer auch eine Frage der Verantwortung. Ergreifen Sie die Initiative und werden Sie aktiv!
Nachtrag 10.9.2024: In einer früheren Version dieses Textes hieß es nach einer Einführung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: »Doch die Auswirkungen betreffen nicht nur den Screen-Bereich […] Die Kernelemente der neuen Regelungen sind […]«. Im darauffolgenden Absatz wurde unter anderem auch Einfache Sprache genannt. Da dies irritierend war und wir nicht den Eindruck erwecken möchten, Einfache Sprache sei Teil des BFSG, haben wir den entsprechenden Abschnitt angepasst (von »Doch die Auswirkungen betreffen nicht nur den Screen-Bereich […] Die Kernelemente der neuen Regelungen sind […]« zu »Unabhängig vom BFSG steigen auch im Print-Bereich die Anforderungen an barrierefreie Gestaltung […] Besonders relevant halten wir dabei drei wesentliche Aspekte […]«).
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Jeder Text, der zum Lesen veröffentlicht wird, muss typografisch bearbeitet sein. Das gilt auch, wo Einfache oder gar Leichte Sprache verwendet wird. Keine leichte, aber eine wichtige Aufgabe für Typografen und Gestalter. Im Hintergrund steht die Forschung, die in Bezug auf den Einsatz barrierefreier Typografie und Bilder noch in den Kinderschuhen steckt.