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Branche

Barrierefreiheit – warum Sie jetzt handeln müssen

Michi Bundscherer
25. August 2024
Am 28. Juni 2025 treten in Deut­schland neue gesetzliche Rege­lungen zur Barrie­re­freiheit in Kraft. Nutzen Sie diese Chance, sich früh­zeitig zu infor­mieren und gege­be­nenfalls Ihre Gestal­tungs­phi­lo­sophie weiter­zu­ent­wickeln.

In Deut­schland werden die Anfor­de­rungen an die digitale Barrie­re­freiheit künftig deutlich erweitert. Neue gesetzliche Rege­lungen verpflichten alle Anbieter digitaler Inhalte dazu, ihre Webseiten, Anwen­dungen und PDFs barrie­refrei zu gestalten.

Diese Ände­rungen basieren auf dem novel­lierten Behin­der­ten­gleich­stel­lungs­gesetz (BGG), dem European Acces­si­bility Act (EAA) und der Barrie­refreie-Infor­ma­ti­ons­technik-Verordnung (BITV 2.0). Das Behin­der­ten­gleich­stel­lungs­gesetz gilt zwar bereits seit 2002, aber die neuen Bestim­mungen bringen strengere Anfor­de­rungen und Sank­tionen mit sich: Das Barrie­re­frei­heits­tär­kungs­gesetz (BFSG) wird diese Anfor­de­rungen ab dem 28. Juni 2025 weiter konkre­ti­sieren und deren Einhaltung sicher­stellen.

Die Bedeutung für die Krea­tiv­branche

Hersteller und Dienst­leister sind künftig verpflichtet, ihre Produkte und Dienst­leis­tungen barrie­refrei zu gestalten. Dies umfasst sowohl digitale als auch physische Angebote wie Smart­phones, Selbst­be­die­nungs­geräte, E-Commerce und Kommu­ni­ka­ti­ons­dienste … Ziel ist es, Menschen mit Behin­de­rungen eine unein­ge­schränkte Nutzung dieser Angebote zu ermög­lichen. Kleinere Unter­nehmen können jedoch unter bestimmten Bedin­gungen von einigen Anfor­de­rungen ausge­nommen sein.

Für Webde­si­g­ner·innen, UX/UI-Desi­g­ner·innen, Frontend-Entwick­ler·innen sowie ihre Auftrag­ge­ber·innen und Dienst­leis­ter·innen könnte die neue Geset­zeslage tief­greifende Anpas­sungen ihrer Arbeits­weisen bedeuten.

Doch die zunehmende Fokus­sierung auf Barrie­re­freiheit betrifft nicht nur den Screen-Bereich. Unab­hängig vom BFSG steigen auch im Print-Bereich die Anfor­de­rungen an barrie­refreie Gestaltung. Zugäng­lichkeit für alle wird in sämt­lichen Bereichen immer wichtiger – ob online oder offline. Eine Studie des Instituts für Corporate Commu­ni­cation & Identity (CCI) der Hoch­schule RheinMain zeigt, dass in den Geschäfts­be­richten der 40 größten deutschen Unter­nehmen Barrie­re­freiheit bisher noch eine unter­ge­ordnete eine Rolle spielt.

Doch die Anfor­de­rungen an Barrie­re­freiheit entwickeln sich dynamisch weiter. Unter­nehmen und Dienst­leister, die sich jetzt intensiv mit Barrie­re­freiheit ausein­an­der­setzen, werden besser auf die wach­senden Anfor­de­rungen vorbe­reitet sein.

Besonders relevant halten wir dabei drei wesentliche Aspekte:

  • Tech­nische Standards: Anbie­ter·innen müssen sich an aktu­a­li­sierte Richt­linien halten, die spezi­fische Anfor­de­rungen an die Zugäng­lichkeit festlegen – beispielsweise die Web Content Acces­si­bility Guidelines (WCAG 2.1).

  • Barrie­refreie Gestaltung: Webseiten und Anwen­dungen müssen so konzipiert sein, dass sie für alle Nutzer·innen zugänglich sind – unab­hängig von physischen oder tech­nischen Einschrän­kungen.

  • Einfache Sprache: Inhalte sollen klar und verständlich formuliert sein, um eine breite Nutzer­gruppe anzu­sprechen – einschließlich Menschen mit kognitiven Einschrän­kungen.

Warum ist das wichtig?

Barrie­re­freiheit als gesell­schaft­licher Mehrwert

Jeder von uns ist schon auf Barrieren gestoßen, sei es durch Sprach­bar­rieren im Urlaub, durch eine vorüber­gehende Verletzung, während der Betreuung von kleinen Kindern, durch kompli­zierte Büro­kratie, durch tech­no­lo­gische Hürden, alters­bedingt oder aus anderen Gründen. Barrie­refreie Angebote sind für alle Menschen von Vorteil und wichtig: Sie ermög­lichen es jederzeit, gleich­be­rechtigt am gesell­schaft­lichen, kultu­rellen und poli­tischen Leben teil­zu­nehmen, sich zu infor­mieren, zu kommu­ni­zieren, mitzu­be­stimmen …

Desi­g­ner·innen und Kommu­ni­ka­tor·innen, die sich mit Leichter Sprache und klarer Gestaltung beschäftigen, verbessern die Zugäng­lichkeit für spezi­fische Ziel­gruppen und steigern zugleich den Lese­komfort für alle. Denn eine klar struk­tu­rierte Gestaltung macht Infor­ma­tionen für alle verständ­licher und leichter zugänglich und unter­stützt damit das zentrale Ziel der Typo­grafie: Infor­ma­tionen zugänglich zu machen.

Dabei ist es wichtig, nicht den Fehler zu begehen, Leich­tigkeit mit formaler Einfachheit zu verwechseln. Manchmal wird fälsch­li­cherweise ange­nommen, dass eine mini­ma­lis­tische oder gar fehlende Gestaltung auto­matisch barrie­refrei ist. Doch Typo­grafie-Profis wissen: Eine über­mäßige Reduktion der Gestal­tungs­elemente erschwert die Leser­lichkeit eher, statt sie zu verbessern. Eine sorg­fältig durch­dachte Gestaltung unter­stützt das Verständnis und ermöglicht einen besseren Zugang zu den Inhalten.

Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach betonen in ihrem Buch »Gutes Design für Leichte Sprache« (Seite 24):
»Die Form eines Textes ist keine Barriere, die man aus dem Weg zu räumen hat, um den Weg frei­zugeben auf den Inhalt. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine enorme Stütze, die uns hilft, überhaupt erschließen zu können, was ein Text uns sagen will. Text­ge­staltung ist Sinn­ge­staltung.«

Eine Gesell­schaft besteht aus einer Vielfalt von Indi­viduen, und es gibt keinen vorge­gebenen Standard, dem sich »die Anderen« anpassen müssen. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen mit ihren indi­vi­duellen Unter­schieden einbezogen werden – Inklusion ist ein Ausdruck von Haltung und Über­zeugung.

Das Prinzip der Ange­mes­senheit

Bei der Gestaltung von Infor­ma­tionen, insbe­sondere in der Barrie­re­freiheit und Leichten Sprache, sollte ein zentrales Konzept jedoch nicht übersehen werden: das Prinzip der Ange­mes­senheit. Dieses Prinzip, das aus der Rhetorik stammt, fordert, dass ein Text nicht nur technisch zugänglich ist, sondern auch inhaltlich klar und passend gestaltet wird. Die Linguistin Bettina M. Bock betont, dass die Gestaltung eines Textes stets abge­stimmt sein sollte auf: Adressat, Situa­tionen, Inhalt, Funktion und Sender.

Inter­na­tionale Standards als Maßstab

Viele Länder setzen bereits erfolgreich Richt­linien zur Barrie­re­freiheit um, darunter die USA [1, 2], Kanada [3], Groß­bri­tannien [4, 5], Australien [6, 7] und Norwegen [8].

Diese Länder fungieren als Vorbilder für die Umsetzung barrie­re­freier Designs, die über die bloße Erfüllung gesetz­licher Vorgaben hinaus­gehen und ein grund­le­gendes ethisches Enga­gement für Inklusion zeigen. Ein besonders inspi­rie­rendes Beispiel ist Brasilien: Dort werden Gehörlose weniger als »behindert«, sondern vielmehr als Teil einer »sprach­lichen Minderheit« betrachtet. Avatare in Gebär­den­sprache auf Flug­ha­fen­­mo­nitoren und die Möglichkeit des Abiturs in brasi­li­a­nischer Gebär­den­­sprache sind Zeugnisse einer umfas­senden Inklusion. Auch die Zahl der hörenden Brasi­lianer, die die Gebär­den­sprache beherrschen, wächst stetig. [9, 10, 11]

In Deut­schland sind beispielsweise nur etwa 50 % der Städte und Gemeinden teilweise oder voll­ständig barrie­refrei – in Norwegen und den USA nahezu 100 %. In den Arbeitsmarkt sind nur knapp 50 % [12] der schwer­be­hin­derten Menschen im erwerbs­fähigen Alter inte­griert (selbst in den USA sind es etwa 60 %). Auch die Umsetzung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­vention (CRPD) ist in Deut­schland pein­li­cherweise unzu­reichend [PDF, 13].

Das öster­rei­chische Bundes-Behin­der­ten­gleich­stel­lungs­gesetz (BGStG) schreibt vor, dass alle öffentlich zugäng­lichen Einrich­tungen (z.B. Hotels, Gast­stätten, Ausflugsziele, Museen etc.) barrie­refrei zu gestalten sind. Auch für Verkehrs­mittel und Systeme der Infor­ma­ti­ons­ver­a­r­beitung und -vermittlung, wie z.B. Websites, wurden bereits Rege­lungen getroffen.

Im inter­na­ti­onalen Vergleich hinkt Deut­schland also in allen rele­vanten Bereichen leider deutlich hinterher. Wünschenswert ist jedoch, dass wir uns an den Standards anderer Länder orien­tieren, auch die in Europa vorhandenen Richt­linien inte­grieren, um auch hier inter­na­tional als inno­vativer und verant­wor­tungs­voller Akteur wahr­ge­nommen zu werden.

Gesell­schaftliche Verant­wortung und unter­neh­me­rische Chancen

Unter­nehmen und Orga­ni­sa­tionen haben nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern auch eine ethische Verpflichtung, alle Menschen einzu­be­ziehen. Barrie­refreie Angebote sind nicht nur gesetzlich vorge­schrieben, sondern auch moralisch wichtig und richtig. Sie tragen zur Schaffung einer gerechteren Gesell­schaft bei.

Verbesserte Nutze­rer­fahrung

Barrie­re­freies Design kommt allen Nutzern zugute. So sind klar struk­tu­rierte und einfach zu bedienende Produkte und Dienst­leis­tungen (z.B. Computer, Smart­phones, Fernseher, öffentliche Verkehrs­dienste, Bank­dienst­leis­tungen, E-Books, elek­tro­nischer Handel und mehr) für alle ange­nehmer und intu­itiver zu erfahren.

Erschließung neuer Ziel­gruppen

Durch Barrie­re­freiheit wird eine breitere Ziel­gruppe erreicht. Dies eröffnet neue Markt­chancen und stärkt die Kunden­bindung.

Image und Wett­be­werbs­fä­higkeit

Unter­nehmen, die barrie­refreie Angebote bereit­stellen, verbessern ihr Image und ihre Repu­tation. Sie posi­tio­nieren sich als verant­wor­tungs­be­wusste und zukunfts­o­ri­en­tierte Akteure und heben sich so von der Konkurrenz ab.

Inklusion und Barrie­re­freiheit: jeder profitiert

In Deut­schland leben etwa 7,8 Millionen Menschen mit einer schweren Behin­derung, das ist also fast jeder Zehnte. Laut dem Statis­tischen Bundesamt waren 57 % der Menschen mit Behin­derung im Alter von 15 bis 64 Jahren im Jahr 2019 berufstätig oder suchten nach einer Tätigkeit.

Dabei bestehen Behin­de­rungen vergleichsweise selten seit Geburt, meist entstehen sie im fort­grschrittenen Alter – häufig durch eine Krankheit verursacht.

Von Barrie­re­freiheit und Inklusion profi­tieren jedoch viele weitere Gruppen: ältere Menschen, Eltern mit kleinen Kindern, Menschen mit vorüber­ge­henden Beein­träch­ti­gungen, Menschen mit geringer tech­nischer Erfahrung, Nutzer mit langsamen Inter­net­ver­bin­dungen, Menschen mit Lern­schwie­rig­keiten, Nutzer, deren Mutter­sprache nicht Deutsch ist, Menschen, die gerade einfach müde sind … Selbst Menschen ohne Benach­tei­li­gungen profi­tieren letztlich von klar struk­tu­rierten und gut zugäng­lichen Inhalten.

Kurzum: Barrie­re­freiheit und Inklusion sind nicht nur eine mora­lische Verpflichtung, sondern bringen zahl­reiche Vorteile für jeden Einzenen von uns mit sich: Eine durch­dachte barrie­refreie Gestaltung verbessert die Benut­zer­freund­lichkeit insgesamt, verschafft Unter­nehmen einen Wett­be­werbs­vorteil, stärkt Repu­tation und Vertrauen und fördert die Inno­va­ti­onskraft. Zudem minimiert sie das Risiko recht­licher Konse­quenzen und erhöhter Bußgelder.

Jetzt weiter­bilden: So geht’s

Die bevor­ste­henden gesetz­lichen Ände­rungen eröffnen eine einmalige Gele­genheit, sich auf diesem wach­senden Gebiet zu spezi­a­li­sieren. Nutzen Sie die Zeit bis 2025, um sich fort­zu­bilden und Ihre Kenntnisse zu vertiefen. Hier einige Schritte, die Sie jetzt unter­nehmen sollten:

Fazit

Die neuen gesetz­lichen Anfor­de­rungen zur Barrie­re­freiheit sind weit mehr als nur eine büro­kra­tische Hürde. Sie bieten die Chance, Ihre Fähig­keiten zu erweitern und sich als Expert·in in einem zukunfts­wei­senden Bereich zu posi­tio­nieren. Indem Sie sich jetzt weiter­bilden, sichern Sie nicht nur Ihre berufliche Zukunft, sondern leisten auch einen wert­vollen Beitrag zu einer inklu­siveren und gerechteren digitalen Welt.

Setzen Sie Ihre gestal­te­rischen Fähig­keiten gezielt ein – denn gute Gestaltung ist immer auch eine Frage der Verant­wortung. Ergreifen Sie die Initiative und werden Sie aktiv!

Nachtrag 10.9.2024: In einer früheren Version dieses Textes hieß es nach einer Einführung zum Barrie­re­frei­heits­s­tär­kungs­gesetz: »Doch die Auswir­kungen betreffen nicht nur den Screen-Bereich […] Die Kern­elemente der neuen Rege­lungen sind […]«. Im darauf­fol­genden Absatz wurde unter anderem auch Einfache Sprache genannt. Da dies irri­tierend war und wir nicht den Eindruck erwecken möchten, Einfache Sprache sei Teil des BFSG, haben wir den entspre­chenden Abschnitt angepasst (von »Doch die Auswir­kungen betreffen nicht nur den Screen-Bereich […] Die Kern­elemente der neuen Rege­lungen sind […]« zu »Unab­hängig vom BFSG steigen auch im Print-Bereich die Anfor­de­rungen an barrie­refreie Gestaltung […] Besonders relevant halten wir dabei drei wesentliche Aspekte […]«).

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