Checkliste für optimale Schrift
RPG: Das tut es wirklich, denn der inhaltliche Ansatz ist ziemlich neu. Es erforscht systematisch den Umgang mit Schrift.
MB: Zudem lassen die beiden Autoren aufhorchen: Kai Büschl ist Schriftgestalter und Dozent. Er kennt sich wahrlich mit Schrift aus und kuratierte jahrelang die Schriftvorstellungen der tgm-Vortragsreihe. Oliver Linke ist ebenfalls Designer, Schriftgestalter und Dozent. Darüber hinaus ist Oliver der ehemalige tgm-Vorsitzende.
Vergleich mit anderen Büchern
RPG: Aber es sei erlaubt, einen Vergleich mit zwei anderen, ebenso wichtigen und sehr gut gestalteten Büchern zu erwähnen. „Schrifttypen verstehen, kombinieren“ von Philipp Stamm befasst sich mit demselben Problem, geht aber ganz anders damit um. Ein älteres, aber ebenfalls aktuell gebliebenes Buch, „Schriftwechsel“ von Stephanie und Ralph de Jong.
Ich habe in meiner Bibliothek nachgeschaut, ob ich noch weitere Bücher zu diesem Thema finde. Diese behandeln jedoch entweder nur einen Bruchteil von »Schrift. Wahl und Mischung« oder sind eher für Schriftgestalter geschrieben, statt für Schriftnutzer. Offensichtlich schließt dieses Werk eine bestehende Lücke.
Schriftprofile als Strategie für die Schriftwahl
RPG: Bisher hatte man sich überlegt, welche Schrift zu einem Projekt passen könnte. Die Autoren empfehlen eine eigene Strategie: Erstellung von Schriftprofilen, und bieten verschiedene Profile für verschiedene Anwendungsbereiche an: vom ungestörten linearen Lesen bis zu Schriften für Kartografie. Das wird gut beschrieben und in einer das Kapitel abschließenden Tabelle ersichtlich. Das schafft schon mal eine gute Basis.
MB: Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses System auch in der Ausbildung Verwendung findet. Nicht nur Studierende lieben Listen, und tatsächlich helfen solche Schriftprofile, sich systematisch mit den unterschiedlichen Details auseinanderzusetzen.
Schriften mischen
RPG: Mehrere Schriftengekonnt zu kombinieren, setzt enormes Wissen voraus. Im Buch werden verschiedene Methoden erläutert. Das beginnt ganz einfach, nämlich dort, wo man eigentlich noch nicht von einer Mischung sprechen kann, innerhalb einer Schriftfamilie. Als nächster Schritt wird die Mischung innerhalb einer Schriftsippe erwogen. Für mich ist das eine sehr gute Möglichkeit der Akzentuierung durch Schriftschnitte. Doch Büschl und Linke gehen viel weiter und damit wird es spannend und kompliziert. Ich selbst stehe diesem stilistischen Mittel skeptisch gegenüber, weil ich meistens schon mit einer Großfamilie gut zurechtkomme.
MB: Auch wenn es nichts grundsätzlich Neues geboten wird – denn die Kriterien zur Schriftmischung sind ja kein Geheimwissen – finde ich dieses Kapitel ebenfalls ganz spannend: von den eher theoretischen Methoden bis hin zu Beispielen aus der Praxis.
Rudolf, du hast recht: Großfamilien bzw. Schriftsippen sind praktisch, weil die unterschiedlichen Schriften von Haus aus bereits miteinander harmonieren. Für mich ist das aber nicht immer die Ideallösung. Bei Schriftmischungen möchte ich zu große Harmonien eher vermeiden und mische z.B. eine lesbare Grotesk mit einer luftigen Renaissance-Kursive. Im Kapitel zur Schriftmischung erfährt man, welche Methoden es gibt und welche Feinabstimmungen in diesem Fall vorgenommen werden sollten – also essenzielles Wissen für Menschen, die mit Schrift umgehen.
Schrift formal betrachtet und Aspekte der Realisierung
RPG: Für eine gelungene Schriftwahl bietet dieses Buch eine Anleitung, wie der Mengensatz eingerichtet wird. Es beschäftigt sich mit weiteren aktuellen Themen, wie erstellt man Wortmarken, wie modifiziert man eine Schrift, wo findet man diese – als Freefonts oder lizensiert. Auch der gesamte Anhang mit Register, Schriftenverzeichnis und genauem Bildnachweis scheint vorbildlich gelungen zu sein.
MB: Wir sind mit unserer Betrachtung also schon recht tief drin im Buch. Was wir bis jetzt nicht erwähnt haben, sind die nicht ganz unwichtigen ersten Kapitel. Denn um mit Schrift professionell umgehen zu können, ist grundsätzliches Wissen unabdingbar – etwa zur Schriftgeschichte, Formprinzipien, Schnittausbau und Schriftanmutung. Diese sind sauber recherchiert und mit vielen Abbildungen versehen. Positiv hervorzuheben die Original-Beispiele im Kapitel »Schriftgeschichte«, denen jeweils eine aktuelle digitale Schrifttype gegenübersteht.
Die Kapitel zu den verschiedenen konventionellen und neueren Ansätzen der Schriftklassifizierung und die technischen Aspekte bieten neben der angezeigten Breite auch die erforderliche Tiefe. Es werden die Eigenheiten der verschiednen Fontformate erklärt (PostScript, SVG-Webfonts), auf die Inhalte einer Schriftdatei eingegangen (Glyphenvarianten, OpenType-Features) und weitere Details erläutert (Hinting, Variable Fonts, responsive Schriften). Das Thema »Umformatierung von Schriftensoftware« haben nur wenige auf dem Schirm, könnte für einige Anwender aber Anfang 2023 aktuell werden, wenn Adobe die Type-1-Unterstützung auch für InDesign einstellt.
Wo kommen die Schriften her?
MB: Früher war das viel einfacher als heute: Hatte man ein Satzgerät eines bestimmten Herstellers, konnte man von diesem auch die Schriften beziehen. Heute funktionieren Schriften in der Regel plattformübergreifend, man kann also aus den Vollen schöpfen. Durch relativ günstige und einfach zu bedienende Werkzeuge ist die Herstellung von Schriften zudem auch so einfach wie noch nie. Die Folge ist ein unübersichtliches Schriftenangebot von schier unzähligen unabhängigen Foudries. Junge Foundries organisieren sich auf neuen Vertriebsplattformen zu Webshops zusammen. Nach wie vor gibt es große Foundries wie Monotype, Linotype, FontShop, URW, Bitstream, MyFonts, Hoefler & Co. etc. Dazu kommen weitere Global Player wie Adobe und Google, die ebenfalls Schriften anbieten.
Die Frage aber bleibt: Wo findet man die passende Schrift für ein bestimmtes Projekt? Was können Freefonts und was konkret sollte man bei Schriftlizenzierungen beachten? Die beiden Autoren können auch einige Tipps liefern – freilich aus der Sicht einer Independence-Foundry, die sie ja ebenfalls betreiben.
Die Gestaltung des Buches
RPG: Hier handelt es sich um eine Sach- und Lehrbuchgestaltung von sehr gutem Niveau. Eine dreispaltige Seitenbasis mit einer starken Kraftachse durch das gesamte Buch. Die einzelnen Elemente auf den Seiten lassen sich gut unterscheiden. Die Zweitfarbe des Buches (Pantone 137 C) wird sparsam und nur dort eingesetzt, wo es sinnvoll für die didaktische Verständlichkeit ist.
Gesetzt ist das Werk aus den Schriften von Kai Büschl — LD Moderne Slab (8/12 pt) und LD Grotesk (9/12 pt). Papier und Einband sind angenehm haptisch. Der Einband ist stabil und die didaktische Idee des Buches beginnt schon mit einem hinführenden Text auf der Buchvorderseite. Gesetzte Beispiele und die vielen Tabellen stehen hervorragend und es gibt unzählige abgebildete Beispiele aus der Praxis – und das noch in Schwarz-weiß!
Unser Fazit
MB: Es werden beeindruckend viele Schriften gezeigt. Persönlich hätte ich mir mehr Schriftbeispiele von Independence-Foundries gewünscht. Aber ich sehe schon ein, dass dieses Werk nicht auch noch ein Schriftmusterbuch sein muss. Und man merkt, dass die beiden Autoren nicht nur wissen, wovon sie schreiben, sondern sie können dies auch klar und verständlich in Worte fassen.
RPG: Ich empfinde Respekt und Hochachtung von diesem gelungenen Wissens- und Bildungsprojekt und spüre, wie typotüchtig die beiden sind.
Kai Büschl, Oliver Linke
Schrift. Wahl und Mischung
210 × 280 mm
400 Seiten
Festband
Rheinwerk Verlag, Bonn 2021
49,90 Euro
ISBN 978-3-8362-6171-5I
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