Typografisch auffällige Romane
Für Typografen ist es normal, Texte nach Funktionen zu setzen. Linearer Text für Romane entspricht fast immer der Absicht der Autoren. Gibt es Teile im Buch, die anders als in der Grundschrift gesetzt werden sollen, wissen Typografen die hierfür sinnvollen Schriften, Auszeichnungen oder Größen. Doch das kommt eher selten vor. Ganz anders ist es bei Autoren, die eine Textveränderung bestimmen oder selbst setzen bzw. setzen wollen. Die sogenannte Demokratisierung der Typografie stößt jedoch an qualitative Wissensgrenzen.
Solche typografisch auffällige Beispiele untersucht Judith Neuhaus in ihrer Dissertation. Typografisch auffällige Romane werden dabei analysiert. Schrift und ihre Materialität werden dabei nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet.
Historisch gesehen gibt es berühmte Einzelfälle wie die von Laurence Sterne, Mallarmé, den Futuristen oder Dadaisten. In der Lyrik sind es die barocken Figurengedichte oder im 20. Jahrhundert die Konkrete Poesie. Dort werden jeweils typografische Formen von den Autoren entwickelt. Das musste in Blei- und Fotosatzzeiten technisch umgesetzt werden. Heute geht das durch die digitale Satz- und Schreibtechnik wesentlich einfacher.
Judith Niehaus untersucht zunächst die Zusammenhänge zwischen Typografie und Verfremdung anhand der Theorien von Viktor Šklovskij und Bertolt Brecht. »Ein typografisches Verfahren soll dabei als Abweichung von der Norm auf der Ebene des Schriftbildes verstanden werden, die auch ohne die inhaltliche Lektüre des Textes auffällt«, so schreibt die Autorin in einer ersten Definition.
Typografie und Bedeutung beschäftigt sich mit dem Feld der Schriftlinguistik. Typografische Möglichkeiten von Texten sind mittlerweile auch in der Wissenschaft etabliert. Niehaus verweist hierbei auf Spitzmüller und zitiert Stöckls Tabelle »Typographie – Gewand und Körper des Textes«, welche die typografischen Bereiche nach Gestaltungsdimensionen und ihren Merkmalen einteilt.
Der Hauptteil des Buches widmet sich in einer siebenteiligen Typologie mit Beispielen aus der gegenwärtigen Literatur, welche eine »verhaltensauffällige« Typografie aufweisen.
1. Handschrift. Sie gehört unter Fachtypografen nicht zur Typografie. Durch ihre Nähe zur Satzschrift sieht die Wissenschaft das jedoch anders. Aufgrund ihrer physischen Authentizität und Einzigartigkeit besitzt sie fast eine »Aura« (Benjamin). »Gesetzte« Handschriften versuchen, eine Persönlichkeit wiederzugeben. Gelingt das?
2. Schriftartenwechsel. Typografen würden das vielleicht Schriftmischungen oder unterschiedliche Schrifttypen für unterschiedliche Textarten nennen. Hier gehört bereits die Skala visueller Auszeichnungen im Text dazu.
3. Mehrschriftlichkeit. Traditionell wird auf die deutsche Doppelschriftlichkeit hingewiesen (Lateinisch / Gebrochene). Oft findet das auch zwischen Serifen- und serifenloser Schrift statt und man setzt hier gelernte (oder erahnte) Bedeutungen voraus. Mehrschriftliche Publikationen gibt es schon seit einigen Jahrhunderten. Es liegt auch deshalb nahe, dass dies heutige Autoren verwenden.
4. Schriftgröße. Hierunter fällt die Verwendung von Großbuchstaben oder Kapitälchen.
5. Satz und Anordnung der Schrift. Unzusammenhängende Textbreiten- oder Größenveränderungen suggerieren etwas im Text Abweichendes vor. Doch kann selbst Flattersatz im Gegensatz zum ausgeschlossenen Satz auch Bedeutung haben. Und schließlich werden auch Satzformen, die man aus bestimmten Lesearten kennt, (wie z.B. der Lexikonsatz), Bedeutung tragen. Texte, die das lineare Lesen verlassen, bringen neue Leseherausforderungen mit sich. Lektürepfade als Hinweise oder Links können dies unterstützen. Linien, wie wir sie auch aus Infografiken kennen, strukturieren Textpassagen. Zeilenbreiten, linksbündig zu rechtsbündigen Zeilen und sogar freiverlaufende Zeilen folgen der Textidee. Bilder oder Symbole aus Schrift gesetzt erinnern dabei an visuelle Poesie. Und schließlich steckt auch das Weiß der Seiten voller Interpretationsmöglichkeiten.
6. Satz- und Sonderzeichen. Wenn Satzzeichen ihre konventionelle Funktion verlassen, erweitert oder sogar anhäuft werden, können bisher nicht beschriebene Deutungen verursacht werden. Heute wissen wir, dass das gut gemeinte Gendersternchen den Lesefluss erheblich behindert.
7. Streichungen. Durchstreichen, Löschen, Zensieren können in Texten sowohl den Schreibprozess offenlegen als auch eine Distanzierung vom Text ausdrücken.
Nachdem diese Typologie im Buch ausführlich behandelt wurde, werden anschließend fünf Bücher mit auffälliger Typografie analysiert. Behandelt im Buch werden aber weitere 27 Werke. Das ist für Literaturleser sehr interessant. Ich empfehle das Buch aber auch allen, die an komplexer Typografie interessiert sind. Denn das könnte vielleicht noch ein größeres Thema in und für die Typografie werden. Leider sind die immerhin 109 eher grauen Abbildungen im Buch relativ klein dargestellt.
Judith Niehhaus
Verfremdete Schrift
Tyographische Verfahren in der deutschen Erzählliteratur der Gegenwart
442 Seiten
Festeinband mit Schutzumschlag
Wallstein Verlag, Göttingen 2023
ISBN 978–3–8353–5517–0
34 Euro
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