… POGR·AFIEN … OGRA·PHIES
Selbst wenn zu einem Werk mehrere Abbildungen gezeigt werden, sind es, wenn ich richtig gezählt habe, fast 1000. Aber ein »Druckwerk« wie UdSSR periodica 1932 von Salomon Telingater (1903–1969) und Ivan Fiodorovich Rerberg (1892–1957) mit sechs Abbildungen (Umschlag und Doppelseiten, S. 190) zeigt in diesen Abbildungen sechs verschiedene typografische Lösungen oder Figuren.
Aber auch die einzelnen Karten im Katalog der Muster von Herbert Bayer, 1927, S. 45, sind nicht einfach Variationen eines Layouts. Jedes der 13 abgebildeten Einlageblätter zeigt eine eigenständige Lösung. Verwirrend ist nur, dass gleich große Blätter in vier verschiedenen Größen abgebildet sind.
Aber es stimmt ja auch sonst nicht alles. Zum Glück. Als die Drucksachengestaltung mit den Futuristen und Dadaisten erst aus den Fugen geraten war und die Konstruktivisten ihr dann Korsettstangen einzogen, gab es noch kein »Grafik-Design«. Es waren Künstler, die Drucksachen gestalteten und mit der Fotografie zu experimentieren begannen. Nur zwei der Protagonisten der Neuen Typographie hatten das Handwerk von der Pike auf gelernt: Philipp Albinus in Frankfurt am Main und Wilhelm Lesemann in Bielefeld. Und dann geschah es nicht nur in Deutschland, wie der Untertitel suggeriert und der Inhalt (zum Glück) nicht bestätigt. Jan Tschichold hat alles verstanden und durchschaut, aber selbst nie in der Satzgasse oder am Tiegel gearbeitet.
»Bauhaus & mehr« suggeriert Entwicklungslinien. Aber die Bilder vermitteln das nicht. Wer hat was wann bei wem gesehen? Sie machen auch nicht deutlich, wovon sich die Neue Typographie abgrenzen wollte. Oder wie ein Plakat der Neuen Typographie neben anderen auf einer Litfaßsäule wirkt.
Patrick Rössler behandelt das Thema in vier Gruppen mit insgesamt 11 Kapiteln: Innovation, Diffusion, Medien und Epilog. Warum das Buch in Deutsch und Englisch mit Wendeschutzumschlag sein muss, verstehe ich nicht. Die Bildlegenden sind nur in Deutsch. Leser, die kein Deutsch verstehen, können das Gedruckte nur als Bilder aufnehmen. Der Gestalter hätte nur lesen müssen, was Herbert Bayer auf seiner VdR-Karte sagt (S. 35): »immer das wesentliche einer aufgabe muß erforscht und erkannt werden, dann wird die äußere erscheinung […] das logische mittel sein zum zweck«. Das gilt auch für Bücher.
In der »Gebrauchsanweisung« vor dem Inhaltsverzeichnis wird das Buch als »Überblickswerk« charakterisiert, »das eher bestehende Erkenntnisse zusammenfasst und bündelt denn eigene Forschungen präsentiert; es dominiert nicht die detailverliebte Analyse, sondern der kursorische Blick auf die Vielfalt an Positionen einer lebendigen Epoche, die auch mit der Gleichschaltung unter dem nationalsozialistischen Regime nicht zu Ende ging«. Er zeigt mit einer bisher nicht gesehenen Fülle von Beispielen die Entwicklung der Typografie von den Anfängen der Neuen Typographie um 1920 bis zum arrivierten Grafik-Design am Ende des letzten Jahrhunderts mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin, (etwa Alex Katz, 1999).
Die Abbildungen scheinen aus unterschiedlichen Quellen zu stammen. Einige sind figürlich freigestellt, andere sind bei gleichem Objekt und gleicher Größe streng rechtwinklig angeschnitten, alle ohne Körperschatten. Die Reproduktionen weisen auch Gebrauchsspuren auf. Eine Abbildung ist allerdings völlig daneben: ein einziger grau gedruckter 50.000.000 (Fünfzigmillionen) Mark Notgeldschein von Herbert Bayer auf Seite 35, datiert 9. August 1923, in der programmatischen Form eines Doppelquadrats 14 × 7 cm. Das Projekt »Notgeld des Landes Thüringen« hätte eine ganze Seite verdient, war es doch der erste Auftrag für ein industriell gefertigtes Produkt nach einem Entwurf des Bauhauses, lange bevor Bayers Typografie die Drucksachen des Bauhauses dominierte. Alle sechs oder acht Nennwerte und möglichst viele Serien und Farbvarianten hätten die Intelligenz des Entwurfs zeigen können. Mit einer geschätzten Gesamtauflage von bis zu 5 Millionen waren diese Scheine die mit Abstand am weitesten verbreiteten Drucksachen des Bauhauses und der Neuen Typographie – das Bauhaus in der Hosentasche. Doch die galoppierende Inflation und die Armut verstellten den Nutzern den Blick auf die epochale Gestaltung. Am Ende taugten die Papiere gerade noch zum Feueranzünden. Heute würde man den Entwurf als Meta-Design bezeichnen, da nicht mehr das einzelne Objekt gestaltet wurde, sondern eine Vorlage für eine beliebig erweiterbare Serie, die dann von anderen, in diesem Fall Setzern, realisiert werden konnte und auch realisiert wurde. Das war ein ganz anderer Ansatz als bei den »künstlerisch gestalteten« Notgeldscheinen.
Das Buch ist voller Widersprüche. Wenn man aber das Titelblatt der Zeitschrift Dekorations- und Reklamekunst (Offizielles Organ der DuR-Vereinigung zur Förderung der Schaufenster-Dekorationskunst und Reklame e. V.) vom Mai 1927 sieht, das Sonderheft werbwart weidenmüller mit dem »geschnitzten« Titel eines/einer unbekannten Gestalters/in mit expressionistisch anmutenden Lettern und Formen (Seite 21), dann sind alle Bedenken wie weggeblasen und man möchte anfangen zu blättern und zu lesen. Aber Angaben, wo sich dieses seltene Heft befindet, in welcher Bibliothek oder Sammlung, oder wie groß es ist, sucht man vergeblich.
Das Thema Gebäudebeschriftung fehlt völlig: B-A-U-H-A-U-S (in Großbuchstaben von oben nach unten) am Werkstattflügel des bauhaus dessau – das meist fotografierte bauhaus-Motiv, HAUS DES VOLKES in Probstzella (Alfred Arndt), die beleuchtete Außenreklame und die beleuchteten Haltestellenschilder von Walter Dexel im Rahmen des Neuen Frankfurt oder CAFÉ EUROPA (in Großbuchstaben) in Bielefeld.
Moholy-Nagy forderte 1923 in seinem Aufsatz mit dem gleichen Titel von der Neuen Typographie: »Also vor allem: klare Klarheit in allen typographischen Arbeiten. Die Lesbarkeit – die Botschaft – darf nie unter einer a priori angenommenen Ästhetik leiden. Die Buchstaben dürfen nie in eine vorgegebene Form, z.B. ein Quadrat, gezwängt werden.« Diesem Grundsatz widerspricht das Buch nicht nur mit den an Bauklötze erinnernden Titeltreppen. Auch der gesamte Satz, wie die Buchtypografie damals genannt wurde, schafft es mit seinen willkürlich variierenden Bildgrößen nicht, eine »klare Botschaft in eindringlichster Form« zu sein.
Trotzdem: Das Buch lädt ein zu einer faszinierenden Entdeckungsreise.
Ein Muss für Sammler, Händler und Gestalter – auch wenn Breuer, Brüning, Fleischmann, Heller, Holstein, Rademacher, Rattemeyer/Helms schon im Regal stehen.
Das Buch erscheint begleitend zur Ausstellung »Das Bauhaus wirbt. Neue Typografie und funktionales Grafik-Design in der Weimarer Republik«, 1. März bis 12. Mai 2019 im KunstForum Gotha.
Patrick Rössler
Neue Typografien.
Bauhaus & mehr: 100 Jahre funktionales Grafikdesign in Deutschland
New Typographies Bauhaus & Beyond: 100 years of functional Graphic Design in Germany.
Ein Bildband über die Revolution der Buch- und Reklamegestaltung zum Bauhaus-Jubiläum 2019.
232 Seiten
Wallstein Verlag, Göttingen: 2018
ISBN 978–3–8353–3367–3
38 Euro