Experimentelle Typografie heute
An den Hochschulen für visuelle Gestaltung hat das Experimentieren meist einen hohen Stellenwert, vielleicht manchmal zu hoch im Vergleich zu den wichtigen Funktionen der Typografie. Man findet deshalb im Internet ziemlich viel typografische experimentelle Arbeiten. Anders sieht es in der Literatur aus. Im Jahr 2003 erschien bei Thames & Hudson und gleichzeitig im Stiebner Verlag »Experimentelle Typografie. Avantgarde in Modern Type Design« von Teal Triggs mit einem thematischen Überblick über die Szene, vor allem für die Zeit Ende des 20 Jahrhunderts. Und vielleicht noch wichtiger für die Beispiele und die Theorie, also den Hintergrund, erschien 2015 Armin Lindauer / Bettina Müller: Experimentelle Gestaltung (besprochen im tgm Blog am 17. Oktober 2016).
Die aktuelle Ausgabe slanted 40 »experimental type« ist mit ihren Beispielen für heute sehr informativ. Wichtig hierzu ist auch die Einführung von Nicholas Qyll, die auf systematisches Experimentieren eingeht.
Was experimentelle Typografie ist, beschreibt Wikipedia (Abruf am 7. 11. 2022):
»Wissenschaftliche Versuche, die Wirkung typografischer Entwürfe auf Versuchspersonen zu untersuchen. Darin sind sie nicht zu verwechseln mit den Bemühungen der „Expressiven“ und „Extremen Typografie“.
Eine Bewegung innerhalb der Typografie, die ab 1945 die „klassischen Entwürfe“ mit eigenen Designvorschlägen und neuen Medien in Frage stellt. Diese Experimente beziehen sich auf a) kinematografische, b) optisch-dynamische (z. B. Neonwerbung) und c) kinetische Ausdrucksversuche.«.
So ganz überzeugt das jedoch nicht. Schaut man sich die slanted-Ausgabe an, so bilden die Schriften, wie in der Typografie üblich, eine wichtige Grundlage, aber das Experimentieren umfasst natürlich auch das gesamte Design. »… Die Entdeckung neuer Bereiche, Technologien und Gedanken sind eine ständige Quelle der Inspiration, Forschung und Experimente für diejenigen, die folgen«, heißt es bei slanted. Die Ergebnisse der Experimente sind natürlich zu sehen.
Die experimentellen Arbeiten sind in sechs Kapitel unterteilt.
Das zeigt: Im Experiment werden wohl alle Register gezogen. Dabei können sich die Themen überschneiden. Die Grenzen zur Kunst werden oft überschritten. Und wie in der Kunst bleibt vieles offen, ist eigentlich Gestaltung, die sich nicht um den Zweck zu kümmern braucht. Für den Benutzer des Buches ist das natürlich nicht nachvollziehbar. Konzeptionell könnte es werden, wenn es um Serien von Arbeiten ginge, die es sicher gibt, die aber hier nicht erkennbar sein können.
Unendlich viele Anregungen, etwas anderes zu machen, unendlich viele Möglichkeiten, vielleicht auch, um als Gestalter »freier« zu werden?
Nicholas Qyll beschreibt in seinem informativen und weiterführenden Essay das Experimentieren als typografische Erfahrung und als Prozess zwischen Forschen und Üben; ein typografisches Experiment als kreative Erkundung und systematische Testreihe. Wobei bereits die Grundstruktur des normalen Designprozesses experimentell sein kann. Qyll versteht das typografische Experiment als eine Methode der Designforschung, die durch die systematische Untersuchung visueller Phänomene relevantes Designwissen gewinnt. Er beschreibt den Ablauf eines Experiments von der Planung über den Versuchsaufbau bis hin zur tatsächlichen Anwendung und weist darauf hin, dass Designer auch kreative Forscher sind.
Der Band ist hervorragend aufgemacht. Allerdings: Die Bildunterschriften zu den einzelnen Arbeiten im Buch sind schwer lesbar, bei den notwendigen Informationen wäre es sinnvoll gewesen, auf ein zusätzliches und störendes »Experiment« zu verzichten.
slanted 40: experimental type
16 × 24 cm
288 Seiten
Sprache: Englisch
Schweizer Broschur
slanted Karlsruhe, 2022
ISSN 1867–6510
18 Euro
Nachtrag: Meine Beschäftigung mit experimenteller Typografie hat die Idee forciert, das Seminar »Freiheit für die Typografie« (da geht es ums Experiment) im Sommer 2023 wieder zu veranstalten.
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