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Buchbesprechung

Experimentelle Typografie heute

Rudolf Paulus Gorbach
4. Dezember 2022
Typo­gra­fische Expe­rimente sind für Gestal­te­rinnen und Gestalter sehr reizvoll. Denn dabei verlässt man oft die Funk­tionen der Typo­grafie und nähert sich sogar der Kunst. Die Frage ist: Wann oder wo beginnt Gestaltung als Expe­riment? Wo verlässt es die eigentliche Typo­grafie? Und inwiefern kann sie für eine zeit­gemäße Desi­gnfor­schung von Nutzen sein?

An den Hoch­schulen für visuelle Gestaltung hat das Expe­ri­men­tieren meist einen hohen Stel­lenwert, viel­leicht manchmal zu hoch im Vergleich zu den wichtigen Funk­tionen der Typo­grafie. Man findet deshalb im Internet ziemlich viel typo­gra­fische expe­ri­mentelle Arbeiten. Anders sieht es in der Literatur aus. Im Jahr 2003 erschien bei Thames & Hudson und gleich­zeitig im Stiebner Verlag »Expe­ri­mentelle Typo­grafie. Avantgarde in Modern Type Design« von Teal Triggs mit einem thema­tischen Überblick über die Szene, vor allem für die Zeit Ende des 20 Jahr­hunderts. Und viel­leicht noch wichtiger für die Beispiele und die Theorie, also den Hintergrund, erschien 2015 Armin Lindauer / Bettina Müller: Expe­ri­mentelle Gestaltung (besprochen im tgm Blog am 17. Oktober 2016).

slanted 40: experimental type

Die aktuelle Ausgabe slanted 40 »expe­ri­mental type« ist mit ihren Beispielen für heute sehr informativ. Wichtig hierzu ist auch die Einführung von Nicholas Qyll, die auf syste­ma­tisches Expe­ri­men­tieren eingeht.

Was expe­ri­mentelle Typo­grafie ist, beschreibt Wikipedia (Abruf am 7. 11. 2022):
»Wissen­schaftliche Versuche, die Wirkung typo­gra­fischer Entwürfe auf Versuchs­personen zu unter­suchen. Darin sind sie nicht zu verwechseln mit den Bemü­hungen der „Expressiven“ und „Extremen Typo­grafie“.

Eine Bewegung innerhalb der Typo­grafie, die ab 1945 die „klas­sischen Entwürfe“ mit eigenen Desi­gnvor­schlägen und neuen Medien in Frage stellt. Diese Expe­rimente beziehen sich auf a) kine­ma­to­gra­fische, b) optisch-dyna­mische (z. B. Neon­werbung) und c) kine­tische Ausdrucks­versuche.«.

So ganz überzeugt das jedoch nicht. Schaut man sich die slanted-Ausgabe an, so bilden die Schriften, wie in der Typo­grafie üblich, eine wichtige Grundlage, aber das Expe­ri­men­tieren umfasst natürlich auch das gesamte Design. »… Die Entdeckung neuer Bereiche, Tech­no­logien und Gedanken sind eine ständige Quelle der Inspi­ration, Forschung und Expe­rimente für diejenigen, die folgen«, heißt es bei slanted. Die Ergebnisse der Expe­rimente sind natürlich zu sehen.

Die expe­ri­men­tellen Arbeiten sind in sechs Kapitel unterteilt.

Taktiler Realismus
Taktiler Realismus. Das sind Arbeiten mit taktilem Charakter, bei denen der Schrift Materialeigenschaften hinzugefügt werden. Hier hat man den Eindruck, dass einige Arbeiten den typografischen Bezug nur noch am Rande haben. Bei anderen bleibt der Bezug zur Schrift sehr deutlich.
Anti-Leserfreundliche-Typografie
Anti-Leserfreundliche-Typografie ist wohl ein besonders reizvolles Thema, weil hier Rätsel aus Zeichen und Zeichenbündeln gestellt werden, die an Typografie erinnern, aber oft nicht mehr zu entziffern sind.
Absichtliche Unvollkommenheit & Serendipität
Absichtliche Unvollkommenheit & Serendipität (einfacher ausgedrückt: etwas finden, wonach man nicht gesucht hat). Das Zerlegen und Zusammensetzen von Schriften zu völlig neuen Eindrücken.
Coincidence & Intention
Coincidence & Intention bringt den Zufall in den Designprozess und untersucht Arbeiten, die auf Fehlern und Ungenauigkeiten basieren. Das ist nicht ganz einfach nachvollziehbar.
Ever Changing
Ever Changing: Der sich ständig verändernde Raum zeigt Experimente der kinetischen Typografie, die sich von ihrem statischen Zustand lösen, indem sie Bewegung und eine dreidimensionale Stereoskopie sowie die vierte Dimension hinzufügen: Zeit, so slanted.
Cutting Edge
Cutting Edge lenkt die Aufmerksamkeit auf modernste Technologien und deren Auswirkungen auf Designexperimente.
Off the Screen erkundet den physischen Raum, in dem Schrift zu Material, Objekt und Skulptur wird.
Push to the Limits
Push to the Limits regt dazu an, Endlichkeit anders zu denken, Grenzen erlernter Symbolik zu sprengen und neue Reize auszulösen.

Das zeigt: Im Expe­riment werden wohl alle Register gezogen. Dabei können sich die Themen über­schneiden. Die Grenzen zur Kunst werden oft über­schritten. Und wie in der Kunst bleibt vieles offen, ist eigentlich Gestaltung, die sich nicht um den Zweck zu kümmern braucht. Für den Benutzer des Buches ist das natürlich nicht nach­voll­ziehbar. Konzep­tionell könnte es werden, wenn es um Serien von Arbeiten ginge, die es sicher gibt, die aber hier nicht erkennbar sein können.

Unendlich viele Anre­gungen, etwas anderes zu machen, unendlich viele Möglich­keiten, viel­leicht auch, um als Gestalter »freier« zu werden?

Nicholas Qyll beschreibt in seinem infor­mativen und weiter­füh­renden Essay das Expe­ri­men­tieren als typo­gra­fische Erfahrung und als Prozess zwischen Forschen und Üben; ein typo­gra­fisches Expe­riment als kreative Erkundung und syste­ma­tische Testreihe. Wobei bereits die Grund­s­truktur des normalen Desi­gnpro­zesses expe­ri­mentell sein kann. Qyll versteht das typo­gra­fische Expe­riment als eine Methode der Desi­gnfor­schung, die durch die syste­ma­tische Unter­suchung visueller Phänomene rele­vantes Desi­gnwissen gewinnt. Er beschreibt den Ablauf eines Expe­riments von der Planung über den Versuchs­aufbau bis hin zur tatsäch­lichen Anwendung und weist darauf hin, dass Designer auch kreative Forscher sind.

Der Band ist hervor­ragend aufgemacht. Allerdings: Die Bild­un­ter­schriften zu den einzelnen Arbeiten im Buch sind schwer lesbar, bei den notwendigen Infor­ma­tionen wäre es sinnvoll gewesen, auf ein zusätz­liches und störendes »Expe­riment« zu verzichten.

slanted 40: expe­ri­mental type
16 × 24 cm
288 Seiten
Sprache: Englisch
Schweizer Broschur
slanted Karlsruhe, 2022
ISSN 1867–6510
18 Euro

Nachtrag: Meine Beschäf­tigung mit expe­ri­men­teller Typo­grafie hat die Idee forciert, das Seminar »Freiheit für die Typo­grafie« (da geht es ums Expe­riment) im Sommer 2023 wieder zu veran­stalten.

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