Serifen im Kaffeesatz: Ein Typograf packt aus
Da bin ich also, in meinem Hoodie (mit einem gebügelten Hemd würde man als Kreativer vermutlich gar nicht erkannt werden). Bereit, die Welt der Buchstaben zu erobern. Erst einmal Kaffee, sonst komme ich nicht in Fahrt.
Erstes Highlight des Tages: schon wieder der Drucker. Dieses temperamentvolle Biest, das Launen hat wie eine Filmdiva. Zuerst wird das dicke Papier nicht richtig eingezogen, dann gibt es einen Papierstau. »Bitte, bitte, heute keine Streifen auf dem A3-Print.« Spoiler: Es gibt immer Streifen.
Dann der Moment, wenn die Kundin dir ihre Wünsche erklärt – eigentlich kommt ›Kunde‹ ja von ›kundig‹, aber wir wissen alle, wie das in der Realität aussieht. Es gab zwar aus Zeitgründen kein vernünftiges Briefing, aber so hat man sich das nicht vorgestellt. »Ich möchte etwas Modernes, aber auch Zeitloses, etwas Auffälliges, aber nicht oberflächig, und es soll beim ersten Blick ›poppen‹! Vielleicht eine Mischung aus Entwurf 2, 3 und 5? Es muss in Google halt gut aussehen. Oder probiere doch einfach mal was ganz Neues aus. Verstehst du, was ich meine?« Klar, Gedankenlesen ist mein Business. Ich nicke, lächle und denke: »Sagte sie gerade wirklich poppen? Vielleicht … irgend etwas … in Warhols Pop-Art-Stil?«
Es folgt das endlose Spiel: »Ich glaube, der Abstand zwischen dem ›T‹ und dem ›A‹ ist um 0,003 mm zu groß. Oder zu klein, weiß nicht. Kannst du mal gucken?« Ich zücke meinen Fadenzähler. Was wäre ein Grafiker ohne sein präzisestes Werkzeug, das ich fast immer bei mir habe? Fast so wichtig wie der Kaffee – hm, schon wieder kalt. Ich schenke mir noch mal nach.
Jetzt habe ich es: ›Auftraggeber‹ ist das bessere Wort statt ›Kunde‹. Also weniger »ich bin ›kundig‹ und weiß, was Sache ist«, sondern eher »ich gebe dir als Fachkraft den ›Auftrag‹, mich durch dieses Chaos zu führen«. Wenn der Anfangs ratlose Auftraggeber bei der Präsentation dann das Gefühl bekommt, doch kundig zu sein, dann war es schießlich auch für mich wieder ein guter Tag im Office.
Die Flut der E-Mails scheint endlos zu werden. Ein Blick auf die Uhr: Noch nicht einmal Zeit für Mittagspause. Ich hätte jetzt Lust auf Wochenende. Während ich eben in die Welt der Serifenschriften abgetaucht bin fällt mir mein Kaffee ein. Er hat sich still in Eiskaffee verwandelt.
Die Bodoni! Es gibt besser leserliche Interpretationen, doch bei der ›Bauer Bodoni‹ ist jede Kurve ein Flirt, jede spitze Dach-Serife wie ein Augenzwinkern. Eine Schrift wie ein maßgeschneiderter italienischer Anzug – elegant und doch mit einem Hauch von Dramatik. Ich stelle mir vor, wie ich mit meiner Vespa vorbei an aufgeheizten, antiken Säulen und durch schattenspendenden Zypressenalleen fahre. So in etwa fühlt sich Bodoni an (manchmal vielleicht noch ein bisschen dunkler). Wenn sie also die elegante Italienerin ist, dann ist die Baskerville mit ihrer ausgeglichenen Struktur und der seriösen, aber dennoch freundlichen Ausstrahlung der britische Gentleman unter den Serifenschriften. Giambattista Bodoni wollte mit Mitte 20 zu John Baskerville reisen um sein Werk besser studieren zu können. Als er unterwegs an Malaria erkrankte, musste er in Norditalien Halt machen und überflügelte nach seiner Genesung von dort aus schnell all seine Mentoren. Wie lange braucht man eigentlich mit der Vespa von Rom nach Birmingham?
Ich glaube, es gibt gar keine richtig traurige Schriftarten. Gerade finde ich die recht neue Schriftfamilie, besser Schriftsippe Adelle recht interessant. Sie vereint Robustheit mit einer anmutigen Eleganz, was ihr einen starken und dennoch zugänglichen Charakter verleiht – wie ein fester, warmer Händedruck. Bei solchen modernen professionellen Schriften macht es schon Spaß, sich einfach die vielen verschiedenen Schriftschnitte anzusehen und die OT-Funktionen auszuprobieren. Es gibt sie nicht nur mit Serifen, sondern auch in einer serifenlosen und sogar monospaced Version. Und sie kann neben Kyrillisch auch Armenisch, Thai, Koreanisch … Das hat nicht einmal mein Freund Giambattista Bodoni in seinem Lebenswerk, dem ›Manuale Tipografico‹, in diesem Umfang hinbekommen. (Heute sind die Tools aber auch einfacher zu handhaben.) Von Schriften wie die von Ulrike Rausch oder auch die raumgreifenden Letterings von Chris Campe hätte man sich in der Typografie noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen gewagt. Eine Stimme sagt: »Sind die Korrekturen schon umgesetzt?« Was? Ja, müsste gleich vorliegen. Ich mach schnell die Korrektur-PDF auf – sie beinhaltet um 90 ° gedrehte Fotos von vollgekritzelten Ausdrucken. Es sollen jetzt also 49 fadengebundene Seiten werden?
Trotz all dieser wunderbaren Herausforderungen – am Ende eines langen Tages sitzt man da. Schaut sich sein Werk an. Und denkt: »Es ist doch noch immer nicht ›perfekt‹ – vielleicht sollte ich ein paar weitere Ideen ausprobieren?« Andererseits: Es ist schon wirklich ›gut‹! »Vielleicht ist ›gut‹ für heute auch einfach ›gut genug‹.« Dass ich dem Kunden heimlich (manuell) ausgeglichene Headlines untergejubelt habe bleibt unter uns – würde sowieso niemand bezahlen.
Ich stelle fest, dass ich ja schon in meinem kuscheligen Hoodie stecke und es hiermit, jetzt, langsam, offiziell, Zeit ist, den kalten Kaffee gegen ein kühles Feierabendbier einzutauschen. Oder habe ich mir heute einen norditalienischen Rotwein verdient? Das Leben ist schön!
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