Seitenweise erscheinen uns die Bücher
Natürlich gibt es eine Formulierung der UNESCO aus dem Jahr 1964, dass das Buch eine gedruckte, der Öffentlichkeit verfügbar gemachte, nicht periodische Veröffentlichung mit – zuzüglich der Umschlagseiten – mindestens 49 Seiten Umfang. Eine Erweiterung zum digitalen Buch hin fehlt noch.
Die Beiträge werden von den Herausgebern in thematischen Kapiteln in einer Art »Laufzettel« zusammengefasst. Und das Buch selbst ist in Typografie und Gestaltung hervorragend, sieht man einmal vom leider nicht abgerundeten Rücken (bei 480 Seiten!) ab.
Walter Bohatsch philosophiert über den Inhaltsraum Buch und nimmt den Raumbegriff substantiell. Wesentlich wird der Begriff der Leere. Die rhythmische Wiederkehr der Leerräume als weiße, unbedruckte Flächen sieht Bohatsch als einen Beitrag (unter anderen) zur atmosphärischen Erfahrung des Innenraums. Und die Verantwortung des Gestalters gegenüber dem zu transportierenden Inhalt sieht er in einer konkreten Regelung für die Positionierung der Inhaltselemente.
Natürlich gibt es auch zahlreiche Beiträge zur Geschichte des Buches. Alfred Dunshirn begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Einheit von Buch und Philosophie. Lydia Miklautsch denkt über Narbe und Schrift nach. Typographen mag der Zeichenbegriff der Narbe weit hergeholt erscheinen. Ernst Strouhal bezieht sich in seinem Beitrag über Queneaus »Hunderttausend Milliarden Gedichte« eingangs auf ein Buch von Markus Kutter (»Sachen und Privatsachen«, Olten 1964), in dem dieser über Bücher schreibt, die »nur da sind, um sie zu haben«, wie »Silence« von John Cage oder »Finegans Wake« von James Joyce und natürlich das erwähnte Buchprojekt von Queneau, in dem jede Zeile einzeln umgeblättert wird und sich so die hohe Variationszahl ergibt. Strouhal verweist dann auf Borges »Die Bibliothek von Babel« oder auf das Zwölftonspiel von Joseph Matthias Hauer (476 Millionen Varianten), wobei sich Hauer hier mehr als Entdecker der Spielregeln denn als Komponist sieht. Das alles geht natürlich weit über das konventionelle Buch hinaus und das alles noch ohne E-Book.
Aleida Assmann sieht Bücher als Dialogpartner und Energiespeicher. Sie spricht von der Macht, die Bücher besitzen, sowie vom »Schatz« einer kleinen Familienbibliothek und der Unermesslichkeit des Bücherbesitzes. Dabei ist es verständlich, dass man unfähig ist, Bücher wegzuschmeißen.
Christoph Winder vergleicht die Diskussion um das E-Book mit dem Aufkommen des Taschenbuchs um 1950, als ebenfalls der Verlust der Sinnlichkeit beklagt wurde. Enzensberger kritisierte damals die Standardisierung der Cover (heute scheint die Covergestaltung verlagsübergreifend austauschbar geworden zu sein).
Eva Pfisterer erzählt von ihrer bücherlosen Kindheit und dem daraus resultierenden Gefühl, welche Macht das gepflegte (dialektfreie) Sprechen haben kann. Liebe und Lesen sieht sie als Möglichkeit der Verschmelzung des Einsseins. Rotraut Schöbel, die sich selbst als buchsüchtig bezeichnet, beklagt den Waschzettel, der nicht vom Lektor, sondern von der Marketingabteilung geschrieben wird, und Wolfgang Pennwieser berichtet von seinem Versuch, Buch und Lesen in einem psychopathologischen Befund erfolgreich einzusetzen und in einer Dreiecksbeziehung zwischen Arzt, Patient und Buch zu sehen.
Print on Demand als hoffnungsloser Weg des Publizierens wird von Gerhard Ruiss beleuchtet, denn gedruckt ist das Buch schnell (könnte sich der Einzelne leicht selbst leisten), aber ein Buchlager ist noch kein Vertrieb. Mit Blick auf das E-Book beklagt er das Problem der gültigen Ausgabe, da alles laufend ergänzt werden kann. Wir wissen noch nicht, wie und ob wir mit dem E-Book sinnvoll umgehen werden. Und die Sorge um die Zukunft des Buches spiegelt sich in vielen weiteren lesenswerten Beiträgen wider.
Thomas Eder, Samo Kobenter, Peter Plener (Hrsg.)
Seitenweise. Was das Buch ist.
480 Seiten.
Bundespresseamt der Republik Österreich, Wien 2010.
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