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Event

Sein statt Haben

Rudolf Paulus Gorbach
14. Juli 2013
Das Vertrauen in unsere Zukunft ist schwer beschädigt, oft verloren. Der Lack unserer Wohl­stands­ge­sell­schaft blättert längst ab. Große Verän­de­rungen sind wahr­scheinlich geworden. Simonetta Carbonaros denk­würdiges Plädoyer zum Wert des Wandels.

Die inter­na­tional lehrende und beratende italie­nische Konsum­psy­chologin Simonetta Carbonaro hat prägnant über eine mögliche Trans­for­mation vor allem der Konsum­gü­ter­branche gesprochen.

Der letzte Vortrag im Zyklus »Umbruch mit Aussicht« wurde als Desi­gnge­spräch ange­kündigt, erwies sich jedoch als eine wunderbare Vorlesung – jedoch mit stimmiger Visu­a­li­sierung. Nicht nur das Kultur­referat der Stadt München, sondern auch bayern design koope­rierte mit dieser denk­würdigen Veran­staltung. Von Wahnsinn sprach Boris Kochan in seiner Vorstellung der Refe­rentin, wobei sich das Wort ja aus Wahn und Sinn zusam­mensetzt. Wenn man den Standpunkt wechselt, ergibt sich viel­leicht ein neues Bild.

Die wirt­schaft­lichen Akteure der Konsum­gü­ter­branche sollten sich nicht nur als Unter­nehmer verstehen, sondern auch als Teil der Gesell­schaft. Dabei könnten sie aktiv den Verän­de­rungs­prozess mit beein­flussen. Die Konsum­wirt­schaft könnte Versorgung und gleich­zeitig Wohlstand schaffen. Dabei ist das Schaffen von Wohlstand wirkungs­voller als Kunde­n­o­ri­en­tierung, die zu Anpas­sungen und kurz­fristigem Erfolg führt. Problem- Lösungen sollten jedoch zusammen mit den Menschen entwickelt werden, wobei Initiativen der verschie­densten Grup­pie­rungen, selbst der Kultur­schaf­fenden, einbezogen werden sollten.

Neur­o­mar­keting versucht lediglich, das alte Marketing zu inten­si­vieren. Doch das klas­sische Marketing hat den Sinn von Bezie­hungen verloren. Konsu­menten machen längst ihr eigenes Ding und vertrauen der Werbe­branche nicht mehr. Deshalb entstehen Einkaufs­ge­mein­schaften und spezielle Netzwerke. Marken­in­te­grität wird von den Kunden gefordert. Sie möchten keine »Total Branding Expe­rience«. Die Agenturen möchten die Sicht­barkeit maxi­mieren, jedoch fordern die Kunden Inhalte, Identität sowie Vielfalt und Origi­nalität.

Kunst­hand­werkliche Extra­vaganz findet man in der Mode, aber das Normale ist gefragt. Viele Startup-Unter­nehmen setzen auf die Macht der Ideen, mit Charakter, Charisma und Leiden­schaft.

Die Denkweise, dass Kunden­nutzung der Auslöser des Kauf­im­pulses ist, stößt an ihre Grenzen. Westliche Menschen besitzen heut­zutage etwa 10.000 Dinge und deshalb müssen die Bezie­hungen zu diesen Dingen ober­flächlich sein. Eine Kaufsucht, die bis zum Konsum­verzicht reicht, ist die Folge und die Menschen fühlen sich verloren. Billig­produkte, wie beispielsweise diejenigen aus China oder den Schwel­len­ländern, setzen der Industrie stark zu. Hinzu kommen noch Verän­de­rungen im Fami­li­en­modell, die Auflösung der Geschlech­ter­rollen und eine allgemeine Verdrehung der Werte in der Gesell­schaft.

Ein Bedürfnis nach Gemein­schaft ist entstanden, das bis zur Indus­tri­a­li­sierung vorhanden war. Alle möglichen Grup­pie­rungen entstehen als Gegen­entwurf zu post­mo­dernen Lebens­ge­wohn­heiten. Das Bedürfnis nach Freund­schaft, auch der Gast­freund­schaft, wie sie Plato benannt hat, dringt immer mehr in den Vordergrund. So entstehen Initiativen wie der Vorsatz des Nicht­ver­schwendens (Moreno Cedroni, Ster­nekoch in Italien). Abge­laufene Lebens­mittel werden weiter­gegeben. Gegenpole bilden sich gegen die Einsamkeit des Indi­viduums. Neue ökono­mische Gemein­schaften sind klein, lokal und stark vernetzt. Service-Clubs sind vor allem in den Städten entstanden, um sich gegen­seitig zu helfen. Wichtige Treiber dabei sind Weblogger und Inter­net­por­tal­be­treiber.

Heim­werker tauschen ihr vorhandenes Wissen aus. Simonetta Carbonaro nannte hier zahl­reiche Websites:

  • Instruc­tables.com heißt die aktivste Wissens­plattform;

  • Qirky entwickelt gemein­schaftlich Produk­tideen (crowd­sourcing);

  • Etsy.com vermittelt Hand­arbeit, oft einzig­artige Einzel­stücke.

Diese »Makers« erleben in den USA eine neue Renaissance, was Ausstellungs- und Besu­cher­rekorde zeigen.

Carbonaro nennt diese Bewe­gungen »avancraft« und nennt die Beispiele:

  • Chan­gemaker.ch mit dem Slogan »Ethik küsst Ästhetik«,

  • I owe you, wo Kleider aus hand­ge­wobenen Stoffen aus Indien herge­stellt werden, samt QR-Code für jedes Stück und Rück­kopplung zu den Herstellern,

  • Up-cycling, der Begriff für eine Produk­ti­onsweise aus alten Dingen lassen Einzel­stücke entstehen (Hand­taschen, Tische als Beispiel),

  • Merci Paris ist inter­essant für einen bezahlbaren Kunstmarkt,

  • Ethicando verkauft italie­nische Lebens­mittel der Liberia Terra, das sind Produkte die auf konfis­zierten Ländereien der Mafia anbauen und in Gefäng­nissen Süditaliens produ­zieren lassen.

Wenn der Konsument nur das kauft, was für ihn Sinn ergibt, verleiht das Produkten einen neuen Wert. Exzellente Produkte, jedoch nicht Premium und Luxus, die übli­cherweise Standards durch Design ergänzen, sollten es sein. Preiswerte Alter­nativen können durch ein neues Bewusstsein entstehen. Der Preis sollte nicht der nied­rigste, sondern ein ange­messener Betrag sein, denn das Wesentliche und Einfache ist nicht zwangsweise Mittelmaß. Perfekt genug, befreit von allem Über­f­lüssigen, denn unser Wohlstand ist nicht nach­haltig. Für eine neue Konsum­kultur der Bedeut­samkeit plädiert Simonetta Carbonara:

  1. Sofort den Marketing Standpunkt ändern;

  2. Werte und innere Haltung sind zu mate­ri­a­li­sieren, der Sinn ist zu entwickeln damit sinnvolle Erlebnisse entstehen;

  3. Design darf nie eine kosme­tische Ober­fläche sein.

Besser hätte man das Jahresthema der tgm kaum abschließen können. Und jetzt liegt es an den Gestaltern: Was bedeutet das für uns?

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