Sein statt Haben
Die international lehrende und beratende italienische Konsumpsychologin Simonetta Carbonaro hat prägnant über eine mögliche Transformation vor allem der Konsumgüterbranche gesprochen.
Der letzte Vortrag im Zyklus »Umbruch mit Aussicht« wurde als Designgespräch angekündigt, erwies sich jedoch als eine wunderbare Vorlesung – jedoch mit stimmiger Visualisierung. Nicht nur das Kulturreferat der Stadt München, sondern auch bayern design kooperierte mit dieser denkwürdigen Veranstaltung. Von Wahnsinn sprach Boris Kochan in seiner Vorstellung der Referentin, wobei sich das Wort ja aus Wahn und Sinn zusammensetzt. Wenn man den Standpunkt wechselt, ergibt sich vielleicht ein neues Bild.
Die wirtschaftlichen Akteure der Konsumgüterbranche sollten sich nicht nur als Unternehmer verstehen, sondern auch als Teil der Gesellschaft. Dabei könnten sie aktiv den Veränderungsprozess mit beeinflussen. Die Konsumwirtschaft könnte Versorgung und gleichzeitig Wohlstand schaffen. Dabei ist das Schaffen von Wohlstand wirkungsvoller als Kundenorientierung, die zu Anpassungen und kurzfristigem Erfolg führt. Problem- Lösungen sollten jedoch zusammen mit den Menschen entwickelt werden, wobei Initiativen der verschiedensten Gruppierungen, selbst der Kulturschaffenden, einbezogen werden sollten.
Neuromarketing versucht lediglich, das alte Marketing zu intensivieren. Doch das klassische Marketing hat den Sinn von Beziehungen verloren. Konsumenten machen längst ihr eigenes Ding und vertrauen der Werbebranche nicht mehr. Deshalb entstehen Einkaufsgemeinschaften und spezielle Netzwerke. Markenintegrität wird von den Kunden gefordert. Sie möchten keine »Total Branding Experience«. Die Agenturen möchten die Sichtbarkeit maximieren, jedoch fordern die Kunden Inhalte, Identität sowie Vielfalt und Originalität.
Kunsthandwerkliche Extravaganz findet man in der Mode, aber das Normale ist gefragt. Viele Startup-Unternehmen setzen auf die Macht der Ideen, mit Charakter, Charisma und Leidenschaft.
Die Denkweise, dass Kundennutzung der Auslöser des Kaufimpulses ist, stößt an ihre Grenzen. Westliche Menschen besitzen heutzutage etwa 10.000 Dinge und deshalb müssen die Beziehungen zu diesen Dingen oberflächlich sein. Eine Kaufsucht, die bis zum Konsumverzicht reicht, ist die Folge und die Menschen fühlen sich verloren. Billigprodukte, wie beispielsweise diejenigen aus China oder den Schwellenländern, setzen der Industrie stark zu. Hinzu kommen noch Veränderungen im Familienmodell, die Auflösung der Geschlechterrollen und eine allgemeine Verdrehung der Werte in der Gesellschaft.
Ein Bedürfnis nach Gemeinschaft ist entstanden, das bis zur Industrialisierung vorhanden war. Alle möglichen Gruppierungen entstehen als Gegenentwurf zu postmodernen Lebensgewohnheiten. Das Bedürfnis nach Freundschaft, auch der Gastfreundschaft, wie sie Plato benannt hat, dringt immer mehr in den Vordergrund. So entstehen Initiativen wie der Vorsatz des Nichtverschwendens (Moreno Cedroni, Sternekoch in Italien). Abgelaufene Lebensmittel werden weitergegeben. Gegenpole bilden sich gegen die Einsamkeit des Individuums. Neue ökonomische Gemeinschaften sind klein, lokal und stark vernetzt. Service-Clubs sind vor allem in den Städten entstanden, um sich gegenseitig zu helfen. Wichtige Treiber dabei sind Weblogger und Internetportalbetreiber.
Heimwerker tauschen ihr vorhandenes Wissen aus. Simonetta Carbonaro nannte hier zahlreiche Websites:
Instructables.com heißt die aktivste Wissensplattform;
Qirky entwickelt gemeinschaftlich Produktideen (crowdsourcing);
Etsy.com vermittelt Handarbeit, oft einzigartige Einzelstücke.
Diese »Makers« erleben in den USA eine neue Renaissance, was Ausstellungs- und Besucherrekorde zeigen.
Carbonaro nennt diese Bewegungen »avancraft« und nennt die Beispiele:
Changemaker.ch mit dem Slogan »Ethik küsst Ästhetik«,
I owe you, wo Kleider aus handgewobenen Stoffen aus Indien hergestellt werden, samt QR-Code für jedes Stück und Rückkopplung zu den Herstellern,
Up-cycling, der Begriff für eine Produktionsweise aus alten Dingen lassen Einzelstücke entstehen (Handtaschen, Tische als Beispiel),
Merci Paris ist interessant für einen bezahlbaren Kunstmarkt,
Ethicando verkauft italienische Lebensmittel der Liberia Terra, das sind Produkte die auf konfiszierten Ländereien der Mafia anbauen und in Gefängnissen Süditaliens produzieren lassen.
Wenn der Konsument nur das kauft, was für ihn Sinn ergibt, verleiht das Produkten einen neuen Wert. Exzellente Produkte, jedoch nicht Premium und Luxus, die üblicherweise Standards durch Design ergänzen, sollten es sein. Preiswerte Alternativen können durch ein neues Bewusstsein entstehen. Der Preis sollte nicht der niedrigste, sondern ein angemessener Betrag sein, denn das Wesentliche und Einfache ist nicht zwangsweise Mittelmaß. Perfekt genug, befreit von allem Überflüssigen, denn unser Wohlstand ist nicht nachhaltig. Für eine neue Konsumkultur der Bedeutsamkeit plädiert Simonetta Carbonara:
Sofort den Marketing Standpunkt ändern;
Werte und innere Haltung sind zu materialisieren, der Sinn ist zu entwickeln damit sinnvolle Erlebnisse entstehen;
Design darf nie eine kosmetische Oberfläche sein.
Besser hätte man das Jahresthema der tgm kaum abschließen können. Und jetzt liegt es an den Gestaltern: Was bedeutet das für uns?
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