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Buchbesprechung

Schrift-Regen oder Schrift-Segen?

Rudolf Paulus Gorbach
18. April 2025
Alle Arten von Schriften in Büchern über Schriften: Das aktuelle Angebot, der Untergrund, Expe­riment und vergangene Technik, sowie das künst­le­rische, die Kalli­grafie. Fünf sehr unter­schiedliche Bücher.

Auffallend viele Vorträge im Bereich der Typo­grafie befassen sich mit der Schrift selbst. Das hat so stark zuge­nommen, seit Schrift (nach entspre­chender Vorbildung) selbst gemacht werden kann. Die Typo­grafie selbst gerät da ins Hinter­treffen. Für wie uniform Typo­grafie oft angewandt wird zeigt ein gern wieder­holtes Beispiel: Headlines in einer möglichst spitzen (da auffäl­ligeren) Seri­fenlosen auf Mitte­lachse. Ein Klischee der Typo­grafie.

Doch will ich mich diesmal trotzdem speziell mit der Schrift befassen. Dass Vorträge zur Schrift auch gewinn­bringend, ja großartig sein können, bewies vor kurzem ein hervor­ra­gender Vortrag vor der tgm von Michael Clasen und Marcel Saidow. Hervor­ragend deswegen, weil die gezeigte Recherche mit Schriften bereits der Inku­na­belzeit die Tiefe des Schrift­ver­stehens ahnen lässt. Und dass daraus sogar sehr brauchbare Schrift­fa­milien entstehen können wie die Paragon von Marcel Saidov.

Unendliche viele neue Schriften
Im neuen und siebten Yearbook of Type werden wieder 120 neue Schriften vorge­stellt. Diesmal mit reich­lichen und meisten recht schönen Doppel­seiten mit Schrift-Impres­sionen. Die seri­fenlosen Typen über­wiegen. Doch bereitet die gesamte Gestaltung des Buches volles Vergnügen, nicht nur anregend, sondern auch infor­mierend.

Das Besondere von Inde­pendent Types
Eben erschien auch die 2. Ausgabe von »Support inde­pendent Type II« Hier werden über 300 unab­hängige Type-Foundries und ihr Design gezeigt. Das geschieht durch viele wunder­schöne Beispiele von Doppel­seiten von ihren Schrift-Darstel­lungen. Dem folgt eine syste­ma­ti­schere Darstellung der vorge­stellten Fonts, gedruckt zum Teil sogar auf trans­pa­rentes Papier. Das gibt einen Werk­statt­cha­rakter wieder, kann bisweilen auch aber irri­tierend sein. Gags in Schriften erreichen manchmal ihre Grenzen. So ist zum Beispiel das Register des Buches aus einer mageren Schrift gesetzt, in der die Punkte jeweils extrem fett sind. Höchst verwirrend. Doch insgesamt blättern wir in einer sehr schön gestalteten Broschur.

Expe­rimente
Mit vor allem expe­ri­men­teller Schrift und Typo­grafie befasst sich Kobi Franco im Buch »Molecular Typo­graphy Labo­ratory« (englisch und hebräisch). Er nimmt dabei Bezug bereits zu Expe­ri­menten in der Schrift­ent­wicklung der Zwanziger Jahre des letzten Jahr­hunderts, aber auch auf Expe­rimente in der Schrift und der Gestaltung des späten 20. Jahr­hunderts auf. Die Frage scheint ihn zu bewegen, wie sich Funktion und Ästhetik von Inhalt und Form über­schneiden. Wie funk­tioniert das?

Franco zerlegt die Schrift in »Atome«, wird dabei von sprach­wis­sen­schaft­lichen Expe­ri­menten beein­flusst, kennt die Expe­rimente in der Schrift­ge­staltung von Bauhaus bis Licko. »Jeder Buchstabe im latei­nischen Mole­ku­la­ral­phabet besteht aus Kombi­na­tionen von zwei bis elf Atomen, die als chemische Formel ange­ordnet sind, wobei ein im Labor entwi­ckelter digitaler Kata­lysator verschiedene drei­di­men­sionale Varia­tionen der Formel für jeden Buch­staben des Alphabets erzeugt«. Dadurch entsteht ein gene­ratives System von Buch­staben, eine Art DNA. Seine Vorge­hensweise wird dabei erläutert, würde aber den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Zwischen den Achsen Druck, Perspektive und Entdeckung reflektiert Kobi Franco seine eigenen Arbeiten. Ihn inter­essiert vor allem wie der Buchstabe seine eigentliche Funktion einer verbalen Botschaft aufgibt und eine visuelle Botschaft erreicht.

Francos Arbeiten werden im Buch von weiteren Autoren intensiv beschrieben. So Ori Drumer, der meint, dass Franco »das typo­gra­fische Unbe­wusste« aufdecken würde, aus dem Rohma­terial der hebrä­ischen Buch­staben. Eran Neuman beschreibt, wie Franco hebräische Buch­staben mit latei­nischen Buch­staben ergänzt und welcher Prozess daraus folgt.

Zwischen Typo­grafie und Poetik sucht Batsheva Goldman-Ida Kobis »Tests« und deren Grundlagen zu inter­pre­tieren. Das ist – wie das gesamte Forschungs­projekt – nicht ganz einfach, jedoch sehr spannend, wenn man sich mit syste­matisch gedachten Expe­ri­menten gerne beschäftigt. Ich werde mich wahr­scheinlich weiter damit befassen.

Eine eigene Schrift­ge­schichte der Schreib­ma­schi­nen­schriften?
Mit »Impact Type« erschien beim Verlag ein Teil einer paralellen Schrift­ge­schichte zwischen 1941 und 1997. Es geht um Schriften der Schreib­ma­schi­nen­schriften-Hersteller Caractères SA, Setag und Novatype, die über fünfzig Jahre die grössten Büro­ma­schi­nen­her­steller in Europa und auf der ganzen Welt, wie IBM, Remington, Olivetti, Paillard-Hermès oder Triumph-Adler belie­ferten. Sie waren mass­geblich an der Gestaltung, Entwicklung und Herstellung von Schrift­kom­po­nenten und Schrift­bildern für Schreib­ma­schinen sowie aller Arten von Anschlag­druckern beteiligt. Die reich bebilderte Publi­kation mit detail­lierten Porträts von Caractères SA, Setag und Novatype erforscht die Geschichte hinter den Schriften und den histo­rischen Kontext, in dem sie herge­stellt wurden. Zwischen den 1940er- und den 1990er-Jahren stellten die drei Nord­west­schweizer Unter­nehmen Schriften für Schreib­ma­schinen her.

Als die drei Schweizer Unter­nehmen in den 1990er-Jahren geschlossen wurden, sind die meisten ihrer Archive vernichtet worden. Dieses Buch, das die in jahre­langer Recherche an zahl­reichen Orten gesam­melten Dokumente und Infor­ma­tionen zusam­menführt, enthält unver­öf­fent­lichtes Bild­ma­terial und beleuchtet einen wenig bekannten Teil der indus­triellen und typo­gra­fischen Geschichte auf lokaler und inter­na­ti­onaler Ebene. So wurde eine Schrift­ge­schichte und deren Technik für eines der wich­tigsten Aufschrei­be­systeme fest­ge­halten, bevor alles digital wurde.

Kalli­grafie – Quelle und Kunst
Wiesbaden, eine Kapitale der Kalli­grafie steht als Titel eines Buches (wenn auch nicht im Innentitel) über den Arbeiten von Friedrich Poppl, Werner Schneider und Gottfried Pott. Wie das alles im kultu­rellen Umfeld Wies­badens zustande kam, wird bereits in der Einleitung des Buches erklärt. In der prak­tischen Anwendung ist Kalli­grafie spätestens mit dem Aufkommen des Foto­satzes in den Hintergrund geraten, war aber nie verschwunden. Seit Lettering modisch wurde hat das auch wieder die Kalli­grafie beflügelt. Für die Kalli­grafie-Meister in ihrem stetigen Schaffen spielte das aber keine Rolle.

Mir geht es so, dass ich die drei vorge­stellten Kalli­grafen vor allem durch die Anwendung ihrer hervor­ra­genden Satz­schriften kannte. Poppl durch die Poppl-Pontifex, Pott durch seine Schriften für das Projekt von Linotype »Type befor Gutenberg« und Schneider vor allem mit seiner viel­fältigen und klaren Schneider-Libretto.

Über Gottfried Pott schreibt vor allem Stefan Soltek und bringt dabei auch sehr viel geschicht­liches zur Kalli­grafie zur Sprache. So Offenbach mit dem Klingspor-Museum, Rudolf Koch, aber auch Einhard und Nikolaus von Kues. Nach Pott ist eine Form- und Propor­ti­onslehre wichtige Voraus­setzung für das Schreiben und Zeichnen von Schrift. Stil­merkmale, Rhythmus, orna­mentale Wirkung, die Kompo­sition führen zum Können. Dabei dürfen die geome­trischen Basis­formen nicht vergessen werden.

Daraus entstehen Alfabete, aber auch indi­vi­duelle künst­le­rische Blätter aus sehr unter­schied­lichen Texten. Und damit befinden wir uns in einer eigen­ständigen Kunstform, nämlich der Kalli­grafie. Bisweilen empfinde ich solche Arbeiten sogar »erhaben«, was oft durch den Inhalt mancher Texte befördert wird.

Über Friedrich Poppl berichtet Silvia Werfel gleich mit dem Kern seiner Lehre und deren syste­ma­tischem Aufbau. Von Poppl gibt es auch zahl­reiche ange­wandte Beispiele in der Form von Buch­um­schlägen. Aber in seinen »freien kalli­gra­fischen Arbeiten, die mit Inhalt oder auch nonverbal, groß­artigen impulsiven Efin­dungs­reichtum zeigen« (so Silvia Werfel), zeigt sich der Meister. Und die Arbeiten kann man einfach sehen und genießen.

Werner Schneiders Arbeiten ist das Thema von Katharina Pieper, die einst seine Schülerin war. Und daraus ist eine art Arbeits­bio­grafie Schneiders entstanden. Schneider als Lehrer, Schrei­bender, inter­na­tional tätiger und viel­leicht am Stärksten mit neuen Satz­schriften entwi­ckelnder Gestalter und Künstler.

Es ist sehr schön, nun drei große Meister der Kalli­grafie in einem Band bewundern und sogar vergleichen zu können. Das Buch bringt die Beispiele sehr gut wieder, wozu das Schau­buch­format 240 × 280 mm beiträgt. Allerdings wäre das Layout bei einem strengen Buch­ge­stalter besser aufgehoben gewesen. Leer­zeilen im Text statt Absätze ist nun mal kein beliebiges Stil­mittel.

Biblio­grafien

Lars Harmsen, Marian MisiakPola Małac­zewska (Hrsg)
Yearbook of Type #7 Plant Edition
608 Seiten
Steif­broschur
160 × 240 mm
Slanted Publishing, Karlsruhe 2024
48 Euro
ISBN 978–3–948440–77–0

Support Inde­pendent Type II
288 Seiten
210 × 270 mm
Slanted Publishers, Karlsruhe 202
42 Euro
ISBN 978–3–948440–82–4

Kobi Franco
Molecular Typo­graphy Labo­ratory
224 Seiten
210 × 270 mm
Klap­pen­broschur
Slanted Publishing, Karlsruhe 2025
42 Euro
ISBN 978–3–948440–79–4

Sophie Wiet­lisbach (Hrsg.)
Impact Type
Manu­fac­turing Type for Type­writers in Swit­zerland, 1941–1997
224 Seiten
162 Abbil­dungen 
Klap­pen­broschur
160 × 240 mm
Triest Verlag, Zürich 2025
29 Euro
ISBN 978–3–03863–088–3

Wiesbaden – eine Kapitale der Kalli­grafie
Friedrich Poppl, Werner Schneider, Gottfried Pott
Hrsg. Felicitas Reusch für die Kunstarche Wiesbaden e.V.
Mit Beiträgen von Felicitas Reusch, Stefan Soltek, Silvia Werfel, Katharina Pieper, Susanne Nagel und Ole Freytag
184 Seiten mit 141 Abbil­dungen
Festband
240 × 280 mm
Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 2025
29 Euro
ISBN 978–3–75200–882–1

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