typographische
zitate
Gute Typo­graphie ist ganz und gar nicht von auffälligen und sonderbaren Schriften abhängig. Dies meint nur der uner­fahrene.
Jan Tschichold

Typographische
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Branche

Lizenziert euch doch selbst!

Michi Bundscherer
5. Juli 2025
Preisdruck, Platt­formmacht, Lizenz­wirrwarr: Die Schrift­­branche war schon einmal anwen­d­er­freund­licher. Jetzt wagt Fontstand den Bruch – weg vom Platt­form­betrieb, hin zur Genos­sen­schaft. Eine Gele­genheit, die Spiel­regeln der Branche neu zu verhandeln?
Andrej Krátky, Peter Biľak, Christine Bateup und Christopher Slye, die Gründer:innen der Fontstand-Genossenschaft, (mit Moderatorin Indra Kupferschmid) auf der Bühne der Fontstand-Konferenz 2025 in Den Haag.
Gründer:innen der Fontstand-Genossenschaft Andrej Krátky, Peter Biľak, Christine Bateup und Christopher Slye mit Moderatorin Indra Kupferschmid auf der Bühne der Fontstand-Konferenz 2025 in Den Haag.

Noch vor wenigen Jahren war der Schrift­vertrieb ein über­schaubares Feld. Mein Typo­grafie-Lehrer Joachim Opfer oder Gestalter wie Hansjörg Stulle behaupteten, alle rele­vanten Schriften benennen zu können. Das war keineswegs anmaßend: Der Markt war kleiner, die Auswahl kura­tierter, die Szene vernetzt. Doch heute? Was gilt überhaupt noch als »relevant« – in einem Umfeld, das von Vielfalt über­flutet und von Sicht­barkeit abhängig ist?

Zugleich wird der kommer­zielle Lizenzmarkt zunehmend von finanz­ge­triebenen Unter­nehmen geprägt, deren Priorität weniger auf typo­gra­fischer Kultur liegt als auf Skalierung und Rendite. Für viele Foundries bedeutet das: sinkende Margen, begrenzte Sicht­barkeit, Vertrags­be­din­gungen, die Abhän­gig­keiten schaffen – ökonomisch wie gestal­terisch.

Doch auch die Nutzerseite ist zunehmend unter Druck: Die Vielfalt digitaler Kanäle hat zu immer klein­tei­ligeren Lizenz­mo­dellen geführt. Wer eine Schrift einsetzen will, muss sich durch Regelwerke arbeiten, die nach Medium, Reich­weite, Format oder Nutzungsdauer diffe­ren­zieren. Kein Wunder, dass viele lieber auf vermeintlich kostenfreie Alter­nativen ausweichen – von Google Fonts bis zu Schriften, die als Beigabe in Software-Abos enthalten sind – oder gar zu System­schriften greifen.

Font-Standpunkt: Schrift als Gemein­schafts­projekt

Fontstand, die 2015 gegründete Plattform für Miet- und Test­li­zenzen hoch­wertiger Schriften, stellt sich nun gegen diesen Trend. Auf der haus­eigenen Konferenz im Juni 2025 in Den Haag gab das Grün­derteam – Andrej Krátky, Peter Biľak, Christine Bateup und Chri­s­topher Slye – bekannt, dass die Plattform noch dieses Jahr als inter­na­tionale Genos­sen­schaft operativ werden soll. Foundries, Designer:innen und Anwender:innen selbst sollen das Projekt künftig gemeinsam tragen, finan­zieren und weiter­ent­wickeln. Für den Umbau sollen 500.000 Euro über ein Community-basiertes Crowd­funding einge­sammelt werden.

Den Auftakt bildet eine offene Umfrage. Fontstand möchte wissen: Was läuft beim Schrif­tenkauf schief, was ist verwirrend, was überholt? Alle, die mit Schrift arbeiten, sind eingeladen, ihre Perspektive einzu­bringen. Die Community selbst soll neue Standards setzen.

Gruppenfoto vom Fontstand Foundry Meeting am 22. April 2018: Rund dreißig Personen posieren bei strahlendem Himmel auf einer Wiese vor großen Bäumen – stehend und kniend, in entspannter, legerer Kleidung.
Gruppenfoto vom Fontstand Foundry Meeting am 22. April 2018.

Lizenz zum Kollektiv

Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Denn je mehr Platt­formen auf SEO-Taug­lichkeit, Preisdruck und Stan­dar­däs­thetiken opti­mie­ren, desto weniger Raum bleibt für gestal­te­rische Hand­schrift, kulturelle Diversität und typo­gra­fisches Expe­riment. Besonders Inde­pendent Type Foundries, die mit multis­criptalen Systemen, Custom Fonts oder forschungs­ba­sierter Gestaltung Inno­va­tionen voran­treiben, geraten in einem unifor­mierten Markt zunehmend ins Hinter­treffen.

Eine Genos­sen­schaft könnte das ändern: Weg von Share­holder-Logik, hin zu demo­kra­tischer Teilhabe mit nach­voll­ziehbare Entschei­dungen und faire Verteilung der Erlöse. Ein Lizenz­system, das der Realität der Gestal­tenden entspricht – und den Wert von Schrift als kultu­relles Gut anerkennt.

Glyphen und Genossen

Ob das Expe­riment gelingt, wird sich zeigen. Der Aufbau eines global hand­lungs­fähigen Kollektivs ist komplex, rechtlich wie orga­ni­sa­torisch. Aber dennoch sendet Fontstand damit schon jetzt ein deut­liches Signal: Schrift ist keine beliebig skalierbare Datenmenge, sondern gestaltete Kultur – und ihre Vermarktung darf sich dieser Tatsache nicht entziehen.

Der Schritt zur Genos­sen­schaft ist eine bewusste Antwort auf die Schwächen des beste­henden Systems. Er steht für Verant­wortung statt Verwertung, für Mitsprache statt Margendruck. Und viel­leicht auch für eine Haltung in der Branche: dass gute Gestaltung nicht nur im Detail der Buch­staben liegt – sondern auch in der Art, wie wir zusam­me­n­a­r­beiten. Gute Gestaltung ist zunächst eine Haltung, kein Business.

Nachtrag am 7. Juli 2025: Die Umfrage zur Fontstand-Genos­sen­schaft wurde am 6. Juli geschlossen. Aktuell startet die Auswertung der Ergebnisse.

Nachtrag am 9. Juli 2025: Das Foto vom Fontstand Foundry Meeting am 22. April 2018 wurde dem Artikel hinzu­gefügt.

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