Über das »Neue« in Schriftgestaltung und Typografie
»Neuer Blick auf die Neue Typographie«
„Woher kommt es überhaupt ›das Neue«?«, fragte anschließend Julia Meer und entlarvte dabei ein Detail der Typografiegeschichte als Mythos: denn wie neu war sie wirklich, die elementare »Neue Typographie«? War sie tatsächlich so revolutionär, wie ihre Protagonisten behaupteten, allen voran Jan Tschichold (damals noch Iwan)?
Die in Wuppertal ausgebildete Kommunikationsdesignerin forscht an der Berliner Humboldt-Universität und hat über »Die Rezeption der Avantgarde in der Fachwelt der 1920er Jahre« promoviert; so lautet der Untertitel ihrer inzwischen als Buch erschienenen Arbeit »Neuer Blick auf die Neue Typographie«. Darin übt sie Kritik an der Designforschung, welche die Mythen, die die Avantgarde höchstselbst in die Welt setzte, allzu oft unreflektiert übernahm; sie bietet aber auch einen anderen Ansatz an: So sei Gebrauchsgrafik – anders als Kunst – immer auch im Zusammenhang mit der Sozial- und Technikgeschichte zu untersuchen und zu bewerten. Nicht zuletzt gehe es dabei um Kommunikation.
Mit geradezu spitzbübischer Freude zeigte die Referentin, dass die Ideen und Arbeitsergebnisse der Neuen Typografen in der Fachwelt, etwa in den Fachzeitschriften der Druck- und Werbebranche, als veraltet und unprofessionell galten. Tatsächlich waren sie es teilweise auch, denn Forderungen nach Sachlichkeit, Zweckmäßigkeit und dynamisch-kontraststarker Gestaltung gab es – inklusive entsprechende Beispiele – in der Reklame schon seit der Jahrhundertwende. Wegweisend war die 1900 von Fritz Helmuth Ehmcke, Friedrich Wilhelm Kleukens und Georg Belwe gegründete Steglitzer Werkstatt, in der neben Büchern vor allem Reklame gemacht wurde. Die für den Klebstoffhersteller Syntheticon gestalteten Anzeigen und Plakate gehören zu den Ikonen des Corporate Designs, wie man heute sagen würde.
Für die Gebrauchsgrafiker und Drucker der 1920er Jahre waren die Neuen Typografen mit ihren so radikal klingenden Manifesten nichts weiter als »eine Gruppe wild gewordener Autodidakten«. Gleichwohl boten die vom Bildungsverband Deutscher Buchdrucker herausgegebenen »Typographischen Mitteilungen« und andere Fachzeitschriften den Neuen Typographen eine Bühne. In der Folge übersetzten sie das »ideologische Gezetere« überhaupt erst in praxistaugliche, verständliche Sprache.
Keinesfalls will Julia Meer die Leistungen der Avantgarde schlecht reden; gleichwohl lädt sie dazu ein, sich nicht nur von Design-Heroen mit künstlerischer Attitüde inspirieren zu lassen, sondern den Blick auch auf die komplexen Zusammenhänge zu werfen, in denen Gebrauchsgrafik bzw. Kommunikationsdesign entsteht.
»Herz, Hand, Mouse«
Eine hochfahrende künstlerische Attitüde liegt den Wiener Typejockeys fern. Gern jedoch lassen sie sich unter anderem auch von der Kunst inspirieren. Weitere Inspirationsquellen gaben sie in ihrem Vortrag »Herz, Hand, Mouse« preis. Sie gestalten Satzschriften, Lettering und Grafikdesign für alle Medien; zum Portfolio gehören so erfolgreiche Schriften wie die klassizistische Ingeborg und die serifenlose Vito, aber ebenso der Entwurf einer Hausschrift für einen westfälischen Wursthersteller, das Corporate Design für Lenzing Recyclingpapier und vieles mehr.
»Was beeinflusst uns?«, fragten sie sich selbst. Zu allererst ist das der Lebensalltag. Des weiteren Reisen in ferne Länder oder in der eigenen Region. »Altes Zeugs«, das gesammelt wird und fein säuberlich in Kartons sortiert ist (also alte Filmprospekte, Bierdeckel, Bücher, Schriftmuster etc.). Fehler, eigene wie die anderer, aus denen man lernen kann.
Die Gestalter gehen mit offenen Augen durch die Welt. Fotografiert und gesammelt werden natürlich auch Beschriftungen aller Art, schöne, hässliche, skurrile; auch solche mit falschen Apostrophzeichen und falschem Versal-Eszett. Ärgerlich, wenn man schon beim Frühstück auf dem Nutella-Glas mit falscher Zeichensetzung konfrontiert wird. Daraus folgt bei den eigenen Satzschriften gleichsam eine »Bevormundung« des Nutzers: setzt jemand statt eines Apostrophs etwa das Minutenzeichen, wird das automatisch korrigiert …
»Schriften auf Bildschirmen«
Atilla Korap von Monotype widmete sich dem Thema »Schriften auf Bildschirmen« und gab einen gut dosierten Einblick in allerlei technische Details der Schriftgestaltung. Am Anfang stand die Frage: Auf wievielen Bildschirmen begegnet uns Schrift im Laufe eines Tages eigentlich? Auf vielen … beim Wecker frühmorgens, im Auto mit Tacho, Navi und Mediasystem, an elektronischen Werbetafeln, Haushaltsgeräten und an Rechner, Tablet und Smartphone sowieso.
Große Unterschiede in Qualität und Lesekomfort fallen auf — von gepixelt bis höchstaufgelöst. Während skalierbare Vektorschriften aufwendig gerendert und gehinted werden und viel Speicherkapazität brauchen, ist der Hauptvorteil einfacher Bitmap-Fonts der geringe Datenumfang. Mit Monotype Spark liegt inzwischen aber eine Software für Minichips vor, die auch in Geräten, in die keine großen Prozessoren eingebaut werden können, eine bessere Schriftdarstellung ermöglicht, etwa Fitnesstracker, medizinische Instrumente oder die Displays im Auto.
Auf eine kleine Lektion in Sachen Vektor-Schriften-Rendering (Graustufen-, Subpixel-, Edge-Rendering) folgten Beispiele für eText-Fonts, die fürs Lesen an Bildschirmen, auch an kleineren, optimiert sind. Grundlegend: offenere Punzen, eine größere x-Höhe, verminderter Kontrast, eine grosszügigere Laufweite, also insgesamt mehr Weißraum innerhalb und außerhalb der Buchstaben. Klassiker wie Didot, Bodoni. Helvetica und Palatino sind bereits entsprechend aufbereitet.
Atilla Korap zeigte darüber hinaus auch Josh Dardens Freight, die speziell für kleinste Größen optimierte Minuscule von Thomas Huot-Marchand und die Thelo von Tassiana Nuñez Costa, eine für drei Größenbereiche Bildschirm-optimierte Schriftfamilie mit den Versionen Texte (16 Pixel), Grand (18 bis 64 Pixel) und Micro (8 bis 14 Pixel).
Fontstand: gegen die Netz-Piraterie
Andrej Krátky stellte den zusammen mit dem Schriftgestalter-Kollegen Peter Bil’ak entwickelten neuen Schriftlizenzierungsdienst für unabhängige Typefoundries »Fontstand« vor. Ähnlich wie auch schon in der Musikbranche wurden hier die Kreativen selbst aktiv, denn Digitalisierung und Internet haben keineswegs nur positive Folgen. Sie ziehen so gegen die Netz-Piraterie zu Felde, geleitet von dem Wunsch, fürs aufwendige Feilen am Detail, also für hohe Schriftqualität, auch angemessen entlohnt zu werden. Fontstand dient den Schriftgestaltern und den Nutzern gleichermaßen.
Die Grundidee ist so simpel wie genial, das Ganze funktioniert so: Man lädt die App, kann dann nach verschiedenen Kriterien (Stil, Anbieter, Sprachversionen etc.) Schriften suchen und diese eine Stunde lang kostenfrei testen. Danach mietet man den Font bei Bedarf monatsweise für jeweils zehn Prozent des regulären Preises. Nach zwölf Monaten ist er abbezahlt und man erhält eine normale Lizenz.
Der Dienst gilt zur Zeit ausschließlich für Desktop Fonts. 37 unabhängige Anbieter sind mittlerweile beteiligt, von Bold Monday und Commercial Type über House Industries, Letterror und Ludwig Type bis zu Typetogether und Typotheque, auch die Typejockeys sind mit an Bord. Wer Schriften für Web-, Mobile- und App-Anwendungen sucht, wird direkt an die Anbieter verwiesen.
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