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Wo sind all die Farben hin?

Michi Bundscherer
20. August 2025
Farbe bekennen? Lieber nicht. Autos, Marken, Häuser, Städte – alles wird grau. Was einst als elegante Zurück­haltung galt, ist zur kollektiven Unsicht­barkeit verkommen. Zwischen Desi­gn­trend, Philo­sophie und Marktlogik zeigt sich: Wer Farbe verliert, verliert auch Beziehung, Ausdruck und Mut. Zeit, wieder Farbe zu zeigen.

Erinnern Sie sich an den Geschmack einer gelben Zitrone? Wie würde sie schmecken, wenn dem Gelb etwas Rot beige­mischt wäre – fruchtiger, wie eine Orange? Noch mehr Rot – süßer, wie eine Tomate?

Farbe ist mehr als Ober­fläche. Sie beein­flusst, was wir fühlen, erwarten, erleben. Der Lebens­mit­tel­her­steller Heinz versuchte einmal, grünes Ketchup zu verkaufen. Der selbe Geschmack, nur eine andere Farbe. Niemandem hat das neue Gemisch geschmeckt.

Farbe und Leben sind untrennbar verbunden. Und doch: Die Welt wird mono­chromer. 80% aller Neuwagen sind heute schwarz, weiß oder grau. Prüfen Sie mal selbst. Wenn ich gerade aus dem Fenster schaue vermute ich: es sind noch viel mehr! Wo sind sie hin – die himmel­blauen Trabis? Die knall­gelben Citroën 2CV? Das British Racing Green von Aston Martin oder Jaguar? Die roten Alfa Romeo, das markante Blau von BMW? Die bunten VW Käfer? Die purpurnen Lack-Expe­rimente der 70er? Autos hatten Sexappeal. Statt­dessen der neueste Trend: E-Autos in Abflussrohr-Grau.

Ein Beitrag auf »The Culturist« zeigt: Wir leben in der farb­lo­sesten Epoche der Mensch­heits­ge­schichte. Nicht nur Autos, auch Interfaces, Inte­rieurs und Smart­phones präsen­tieren sich in blassen Grautönen. Marken verab­schieden sich zunehmend von farbigen Auftritten und insze­nieren sich in mono­chromen Corporate Designs. Selbst im Film ersetzt tristes Blau-Grau das einst allge­gen­wärtige Teal and Orange – als litten wir kollektiv an einem grauen Star.

Ein weiteres Beispiel ist Apples kürzlich vorge­stellte neue UI-Desi­gn­­sprache »Liquid Aqua«: Alles wird trans­parent, entma­te­ri­a­lisiert, farblos – und damit schlechter lesbar. Was einst klar umrissen war, verschwimmt nun in glasigen Ober­flächen. Was daherkommt als Desi­gntrend, entpuppt sich als kulturelle Zeitenwende. Ausführlich doku­mentiert das Oliver Schön­dorfer in seinem lesens­werten Beitrag Apple’s Liquid Glass Shatters Typo­graphy.

Liquid Glass in iOS
In iOS 26 setzt Apples »Liquid Glass« auf Transparenz – doch fehlender Kontrast macht die Texte schwer leserlich.

Die vergessene Weisheit der Farben

Goethe entwi­ckelte seine Farbenlehre nicht nur als physi­ka­lisches, sondern auch als psycho­lo­gisches System. Gelb war für ihn »das Licht in seiner reinsten Form«, Blau »eine ener­gische Farbe« – Farben als Charaktere, Wesen mit eigenen Tempe­ra­menten. Am Bauhaus wurde Farbe zur Ausdrucksform: Kandinsky malte sie wie Musik, Itten lehrte sie als Sprache der Seele. Farben waren Haltungen.

Und heute? Aus Kand­inskys Farb­sym­phonie wurde Mies van der Rohes Stahlbeton. Aus Ittens Farbkreis: die Firme­n­i­dentität in Schwarz-Weiß. Aus Ausdruck: Absi­cherung.

Die Philo­sophie der Farb­lo­sigkeit

Der Artikel im »Culturist« verfolgt die Entfärbung der Welt zurück bis in die Antike. Platon sah in Farben eine sinnliche Ablenkung vom Wahren. Auch Kant hielt sie für zu subjektiv. Die Moderne machte daraus ein Prinzip: Adolf Loos sprach vom »Ornament als Verbrechen«. Was einst als Befreiung von Überfluss gedacht war, konnte auch als Verzicht auf Sinn­lichkeit gelesen werden. Deut­sch­land griff diese Ästhetik früh auf: die Silber­pfeile im Motor­sport, reduziert auf metal­lischen Glanz. Auch die schwarz-weißen Nati­o­na­l­trikots, Rauh­fa­ser­tapeten, Sicht­be­ton­fassaden, genormten Küchen und die gedeckten Dienst­wa­gen­flotten spiegeln eine Haltung wider: Funk­ti­o­na­lismus als Stil, Eleganz durch Weglassen.

Dieter Rams fasst seine Haltung zu Produkt­farben so zusammen: »Was Farben betrifft, war ich immer sehr vorsichtig. […] Ich mag Farben – aber sie müssen zum Produkt passen. Farbe kann einen Raum domi­nieren. Und Design sollte die Menschen nicht domi­nieren, es sollte den Menschen helfen.« Diese Zurück­haltung war ein bewusstes Abwägen zwischen Sinn­lichkeit und Klarheit. Doch was bei Rams noch durch­dachte Balance war, wurde zur Doktrin: Aus der Scheu vor zu viel Farbe erwuchs die Vorherr­schaft des Neutralen.

Kfz-Neuzulassungen 2024 nach Farben – Schwarz, Weiß und Grau machen zusammen fast 80% aus.

Die Ökonomie der Unsicht­barkeit

Neutral verkauft sich – weil es niemanden aneckt und sich jederzeit weiter­ver­kaufen lässt. Auto­händler erklären, bunte Autos seien »Frauenautos« – als wäre das ein Defekt! Zu verspielt, zu indi­viduell – also riskant. Deshalb kaufen wir nicht mehr, was wir mögen, sondern was bei möglichst vielen möglichst wenig aneckt. Entstanden ist eine Ästhetik der Vorsicht: graue Groß­raumbüros, graue Neubau­sied­lungen, graue Produkte. »Mausgrau, Aschgrau, Staubgrau – darf ich Ihnen ein frisches Steingrau vorschlagen?« – was Loriot einst in »Ödipussi« parodierte, ist längst Alltag.

Grau ist das Helvetica der Farben: sachlich, sicher, universell – aber sobald es dominiert, irgen­d­wann auch leer. Farbe pola­risiert, also wird sie ver­­mieden. Nur nicht fest­legen! Dahinter steckt eine Logik der Absi­cherung: Wir kaufen nicht mehr für uns, sondern was dem nächsten Käufer gefallen könnte. Das Auto wird zur Aktie, die Wohnung zum Portfolio, das Leben zum Busi­nessplan.

Was dabei verloren geht, ist nicht nur Freude, sondern auch Präsenz. Denn wer sich farblos und unsichtbar macht, läuft Gefahr zu verschwinden. Auch für sich selbst.

Farbe ist Haltung

Neuro­wis­sen­schaft und Farb­psy­chologie bestätigen, was bereits Goethe wusste: Farben wirken. Sie beein­flussen unser Denken, unsere Stimmung, selbst unsere Gesundheit. Eine farblose Umgebung macht uns buch­stäblich krank.

Frie­densreich Hundert­wasser verstand: »Ich habe mein Schiff so gebaut, wie ich mir vorstelle, daß ein Haus sein müßte. Bunt – also nicht unbedingt bunt, aber lebendig. Und zum Leben­digsein gehören Farben.«

Der Mut zur Sicht­barkeit

Wenn Menschen nur noch als Ziel­gruppen gelten – Alter, Beruf, Kaufkraft – verlieren wir sie als Ganze. Ebenso unsere Umwelt: Redu­zieren wir sie auf Funk­tionen, verschwindet ihr Wesen. Farbe ist deshalb nicht nur Stil­mittel, sondern Ausdruck. Doch wir sollten nicht gestalten um zu opti­mieren, sondern um zu begegnen. 

Farbe ist Beziehung. Goethe nannte Farben »Taten des Lichts«, Hundert­wasser sprach vom »Recht auf Buntheit«. Beide meinten: Leben zeigt sich nicht in Grau.

Die Farben sind nicht verschwunden. Sie warten auf uns. Sehen wir sie. Nutzen wir sie. Leben wir sie.

Dieser Text ist eine subjektive Perspektive von Michi Bund­scherer – teilen Sie uns gern Ihre eigene Sicht mit.

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