Bilderbücher: illustriert und inszeniert
Ich krame in meinem Gedächtnis zum Thema der Geschichte von Bilderbüchern und erinnere mich an den inhaltlichen und auch gestalterischen Aufbruch der 1960er und 1970er-Jahre. Ein Blick in das Standardwerk »Das Bilderbuch« (Klaus Doderer / Helmut Müller, Weinheim 1973) bestätigt meine Erinnerung. In dieser Zeit sind wesentliche neue Titel erschienen. Neue Kunst und Illustration befruchteten kleine und auch sehr große Verlage. Die pädagogischen Folgen der 68er wurden breit diskutiert. Doch mit dem Verschwinden oder Verkauf der kleinen Verlage wurde es in den folgenden Jahren wieder etwas ruhiger, vielleicht auch betulicher in der Bilderbuchszene.
Manche tgm-Mitglieder mögen sich vielleicht auch noch an einen großartigen Vortrag zur Geschichte und Gegenwart des Bilderbuchs von Gisela Stottele (Ravensburger Verlag) erinnern (Besprechung in »vier Seiten« Nr. 17, März 2002). Jetzt verkündet diese Ausstellung jedoch ein neues Denken, das vor allem weit ins Konzeptionelle und in die Inszenierung reicht. Natürlich ist nicht alles ganz neu, was jetzt angepriesen wird. Aber vielleicht doch in einer bisher noch nicht erlebten Konsequenz.
Kurz vor der Eröffnung der Ausstellung erklärte Hans ten Doornkaat als Gastkurator mit der Direktorin des Gewerbemuseums Susanna Kumschick das Konzept und die Darstellung der 120 Bücher dieser Ausstellung. Wie man heute Konzepte vielfältig und intensiv erarbeitet zeigt die Ausstellung anhand von Konzepttafeln verschiedener Bilderbuchgestalter. Die Recherchearbeit, Recherchezeichnungen, Abfolgeversuche und selbst gebaute Szenenmodelle dienen einer stringenten Vorbereitung und Gestaltung. Das Verstehen einer Bildfolge läuft ähnlich wie das Lesen von Sätzen ab: Bildsignale regen eine Vermutung an, wohin die Story führen könnte. Das geschieht meist blitzschnell und unbewusst (Zitate aus den begleitenden Tafeln der Ausstellung). Und ein Vergleich mit den Theorien der Lesbarkeit bleibt nicht aus.
Die Abfolge im Buch zwischen Bild und Text wird bedeutender. Spezielle Farben, Figuren oder Requisiten intensivieren dies. Das Vorsatz oder auch der Umschlag werden in die gesamte Geschichte schon im Storyboard intensiv mit einbezogen. Auch der Buchumfang verlässt bisweilen die Marke der 32 Inhaltsseiten (womöglich abzugsweise des integrierten Vorsatzes). Da spielt auch das Blätterverhalten mit und selbst der Bund des Buches kann mit Bestandteil einer Bühne für die Erzählung sein. Das andere Extrem wäre dabei das klassische Leporello.
Individuell wird auch das Buchformat selbst den Bedürfnissen angepasst, bis hin zu extremen Quer- oder Hochformaten. »Auch das Vielfältige kann einfach sein, wenn es leicht zugänglich konzipiert ist. Wimmelige Szenen sind ein Hingucker und ermöglichen es individuell in das Bild einzusteigen«.
Wegen der Kürze der Bilderbücher haben die Illustrationen ein großes Gewicht. »Die Exponiertheit der wenigen Zeilen fordert Präzision, textlich und typografisch«. Typografie hat in der Inszenierung eine große Chance der Verdeutlichung und Präzisierung des Inhalts und ist visuell prägend.
Unterschiedliche Bildgrößen, Zoombewegungen und parallele Bildebenen aus dem »Guckkasten« des Bilderbuchs erinnern an bewegte Bilder. Dabei dient das Buch immer auch als Bühne für die Doppelseite, welche entweder linear oder sogar verdichtet genutzt wird.
Löcher, Fenster und Klappen können die Erzählung auch materiell und damit haptisch bereichern. Papiermechanik und Stanzungen, bis hin zu den Pop-up-Welten in Büchern, versprechen vielleicht neue Möglichkeiten, wenn sie nicht nur des Gags wegen eingesetzt werden.
Experimente im Kinderbuch sind dann besonders gut, wenn sie die Kinder (und auch ihre Eltern) erreichen. Grapic Novels, Comics werden verstanden. Und auch die Methode, den Text statt in einer Geschichte nur in direkter Rede der einzelnen Figuren ablaufen zu lassen, samt der Aufgabe für die lesbare Typografie.
Die Ausstellung bietet insgesamt einen hervorragenden Über- und auch Einblick in das gegenwärtige Schaffen deutschsprachiger Kinderbuchgestalter und deren Produkte. Man wünscht sich, dass die Ausstellung beispielsweise auch in der Internationalen Jugendbibliothek in München gezeigt würde.
Die Ausstellung läuft im Gewerbemuseum Winterthur bis 23. Oktober 2022.
gewerbemuseum.ch
Hans ten Doornkaat hat als Lektor viele Jahrzehnte Bilderbücher betreut, von dtv, Nord-Süd-Verlag bis zu Atlantis und war auch Theoriedozent für Illustration an der Hochschule Luzern Design & Kunst. Demnächst erscheint beim Triest Verlag sein Buch mit dem Titel: Das Medium Bilderbuch (256 Seiten, ISBN 978–3–03836–070–8, 39 Euro).
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