Wahl-Familie: Zusammen weniger allein?
Geht man von der Typografie aus, ist die nächste verwandte und korrespondierende Disziplin die Fotografie. Typografische Gestaltung hat sehr viel damit zu tun, vielleicht sogar mehr als mit Grafik und Illustration. Und das führt bei Typografen zu Besuchen von Fotoausstellungen und Fotomuseen, um auch aktuell über Strömungen der Fotografie informiert zu sein.
Dazu gehört auch die künstlerische Fotografie. Im Fotomuseum Winterthur ist derzeit die Ausstellung »WahlFamilie« zu sehen (siehe auch tgm-Studienreise am 2. und 3. September 2022). Um das dazugehörige Ausstellungsbuch aus dem Christian Merian Verlag geht es in dieser Rezension.
Im Fotoband WahlFamilie zeigen zeitgenössische Fotografinnen und Fotografen Porträts und Fotoserien ganz unterschiedlicher Familienkonzepte aus verschiedenen Jahrzehnten. Kurze Essays zu den einzelnen Künstlern und ihrem Werk stellen Familie in Fotografie und Kunst vor: privater Alltag und Inszenierung, emotionale Momente und Pose.
»Doch was bedeutet Familie? Was bietet sie an Lebensentwürfen, an Heimat und Schutz, aber auch an Zumutung und Entfremdung? Wie definierte sich Familie früher, wie heute? Diese Bandbreite an Möglichkeiten spiegelt sich in den Arbeiten der Fotografinnen und Fotografen … Ähnlich wie die kontinuierliche Entwicklung der Fotografie von ihren Anfängen als Daguerreotypie bis zur heutigen Digitalisierung haben sich auch die Familien- und Rollenbilder radikal verändert. « (aus dem Pressetext).
Die Textbeiträge des Buches verknüpfen die Themen Fotografie und Familie sowohl essayistisch als auch wissenschaftlich. Nadine Wietlisbach nähert sich den Themen auf sehr persönliche Weise. In ihrem Gespräch mit der Basler Geschlechterforscherin Andrea Maihofer geht es um Familiengründung, Kinderkriegen, einseitige Belastung der Frauen und Patchworkfamilien. Stefan Länzlinger schreibt über Familienbilder in Archiven. Ihm folgt die MoMa-Mitarbeiterin Lucy Gallun über Dinge im eigenen Zuhause. Aber auch die heutige Verbreitung von Fotografien in der Familienkommunikation (Handyfotos) wird von der Medienwissenschaftlerin Patrica Prieto-Blanco im Gespräch mit Studienteilnehmerinnen untersucht.
Das Buch besticht durch die klare Gestaltung der Bildstrecken, aber auch durch seine einfallsreiche Typografie. Als Paperback mit offenem Rücken und Fadenheftung lässt es sich zudem bequem ganz aufschlagen und »klammert« nicht.
Nadine Wietlisbach (Hg.)
WahlFamilie
Zusammen weniger allein
196 Seiten
104 meist farbige Abbildungen
broschiert, 200 × 285 mm
Christian Merian Verlag, Basel 2022
ISBN 978–3–85616–967–1
38 Euro
Mit Arbeiten u.a. von Aarati Akkapeddi, Larry Clark, Mark Morrisroe, Annelies Štrba und Nan Goldin Textbeiträge von Lucy Gallun, Stefan Länzlinger, Nadine Wietlisbach, Benjamin von Wyl u.a.
Ausstellung im Fotomuseum Winterthur bis 26. Oktober 2022.
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