typographische
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Die Schrift kann manchmal den Zugang zum Text versperren.
Bernhard Campice

Typographische
Gesellschaft
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Buchbesprechung

Unendliche Varianten nach System

Rudolf Paulus Gorbach
29. August 2020
Ein erkleck­liches Musterbuch, in seiner Methodik und seinem in die grafische Welt über­tragbarem Thema spannend, ist bei slanted erschienen. 150 000 Muster sind hier abge­druckt. Viel mehr als man denken kann. Doch was bedeutet das für die typo­gra­fische Praxis?

Der Autor und Entwickler dieses Buches und des dahin­ter­lie­genden Systems beruft sich auf Sol LeWitt mit dem Zitat: »Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht. […] Es gibt viele Neben­wir­kungen, die sich der Künstler nicht vorstellen kann. Diese können als Ideen für neue Werke verwendet werden.« Und dazu erläutert er: Ein Formular wird aus dem Status der reinen Kunst entfernt, sobald es mit eindeutigen Infor­ma­tionen oder ange­wendetem Nutzen gefüllt ist. Ihre poetische Funktion als Kunst wird dadurch geschwächt, ihre prak­tische Funktion als Design wird gestärkt.

Und der Verlag schreibt dazu: Das Ergebnis ist ein syste­ma­tischer Katalog – eine Art Wörterbuch der Formen – zum Durch­suchen und Erkunden geome­trischer Systeme, in denen man immer etwas Neues entdecken kann. Shape Grammars ist als Handbuch für Grafik­de­signer zur Gestaltung von Schriftarten, Logos und Pikto­grammen gedacht, das neben 150.000 gene­rierten Formen einige Potenziale und Einschrän­kungen des gene­rativen Designs aufzeigt. Gleich­zeitig dient die Arbeit als Grundlage für die weitere Erfor­schung komplexerer Systeme und künst­licher Intel­ligenz. Der Computer kann somit bereits als Dialog­partner im kreativen Prozess fungieren.

Was hier fantastisch klingt ist es wohl auch. Wie Noam Chomsky versuchte, alle möglichen Sprachen formal zu erfassen, so hat Maro­scheck einen ähnlichen Versuch für grafische Systeme probiert. »Stellt man sich einmal alle denkbaren zwei­di­men­si­onalen Formen auf einer Skala vom primitiv, geome­trisch, konstruiert nach komplex, gewachsen vor« … 

Die Beispiele sind nach ihren 12 Konstruk­ti­ons­prin­zipien eingeteilt und beginnen mit einem Kreis, der um seine Mitte rotiert. Und sofort wird es spannend und man kann der Varia­ti­onssucht verfallen. Faszi­nierend.

Die Gestaltung des Buches erinnert in ihrer Klarheit an die klas­sische Moderne der Typo­grafie (Akzidenz Grotesk halbfett, oben aufge­hängte Spalten), eine einfache Broschur; ganz den Bedin­gungen des Projektes entsprechend. Das Buch­projekt entstand an der Fakultät Gestaltung der Hoch­schule für ange­wandte Wissen­schaften Würzburg-Schweinfurt bei Prof. Gertrud Nolte.

Jannis Maro­scheck 
Shape Grammars 
185 × 234 mm 
836 Seiten
slanted, Karlsruhe 2020 
42 Euro
ISBN 978–3–948440–09–1

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