Tÿpo: »What nobody talks about«
Nicht die Erfolgsgeschichten sollten im Vordergrund stehen, sondern: Flops, Missverständnisse, Rückschläge, Zweifel, Kritik. Aber wie das mit Vorgaben so ist, nur wenige Referenten hielten sich an das Tagungsthema. Gleichwohl war das Programm hochkarätig.
Über eigene Fehleinschätzungen und verhauene Projekte zu sprechen, fällt leichter, wenn man es letztlich doch geschafft hat und sich ein gutes Renommee erarbeiten konnte. Bei der Wiesbadener Kreativagentur Q ist das der Fall, und so nahmen die beiden zum Team gehörenden Kommunikationsdesigner Matthias Frey und Tim Siegert das Thema mit erfrischender Ehrlichkeit beim Wort. Da wäre zum Beispiel die schöne Geschichte mit dem Wetterfrosch, Blickfang für die internationale Kampagne einer Fluggesellschaft zur innovativen Übermittlung digitaler Wetterdaten ins Cockpit. Das Layout mit dem grünen Kerlchen fand bei der Kundin Anklang, ein Fotoshoot mit echtem Frosch war vorbereitet, erst kurz vor dem Druckunterlagenschluss der Anzeige stellte sich – zufällig – heraus, dass der Wetterfrosch einzig ein Phänomen im deutschsprachigen Raum ist und man ihn sonst nirgends auf der Welt kennt. Er taugte also keinesfalls für eine internationale Kampagne. Fehlende Recherche – ein Anfängerfehler. Neue Entwürfe wurden ausgearbeitet …
Anders liegt der Fall beim Corporate Design für das international gefeierte Kölner Ensemble Musikfabrik, das sich der nicht immer leicht zugänglichen zeitgenössischen, neuen Musik verschrieben hat. Den Bruch mit etablierten Kompositionsmethoden visualisierte die Agentur mit einem nahezu surrealen Konzept. Motto: „Aufmerksamkeit durch Regelbruch“. So zeigen die Cover des Magazins Instrumente und Menschen, die auf unterschiedliche Weise verpackt, also verhüllt sind, und Hannes von Döhrens sperrig-kantige Versalschrift Diamonds. Weil das Ensemble basisdemokratisch organisiert ist, wurden die Entwürfe allen Mitgliedern vorgelegt. Die Reaktionen waren so heftig wie niederschmetternd. Das Design sei „eine Mischung aus Zerstörung und technischer Inkompetenz“, hieß es, Begriffe wie chaotisch, unreflektiert, abstoßend fielen. Bei einem gesonderten Treffen wurden die Kreativen in die Mangel genommen – daher sprach man intern von einer „Grillparty“ –, über die kreativen Ideen wurde intensiv diskutiert und das Konzept am Ende tatsächlich unverändert angenommen. „Sie wollten nur unsere Gedanken verstehen“, so die Erkenntnis von Matthias Frey.
Wie hilfreich gute (mutige) Kommunikation ist, zeigt sich am Beispiel zweier vermeintlicher „Plagiate“: Verwandte Logo-Designkonzepte für ein Ballett und ein Museum, die kurz nach den Q-Präsentationen vor dem Kunden in ähnlicher Form auch in anderen Ländern (Niederlande, Tschechien) veröffentlicht wurden, ebenfalls für eine Balletttruppe und eine Kunstgalerie. Dies offen kommuniziert, bewirkte keinesfalls, dass die Auftraggeber neue Vorschläge forderten. Sie waren klug genug, die gelungenen Entwürfe beizubehalten.
Um Fehlstellen ging es bei Christine Rudi. In ihrer Masterarbeit an der Hochschule Trier widmete sie sich dem Thema Zensur. Der russische Überfall auf die Ukraine und die damit einhergehende Informations- bzw. Nicht-Informationspolitik Russlands gaben den Anstoß. Schwärzen und Weglassen sind gängige Formen von Zensur. Diese beiden Extreme vereint die von Christine Rudi gestaltete Pixelschrift INDEX Mono. Im White-Schnitt verschwinden die Buchstabenverbindungen, im Black-Schnitt verdicken sie sich. Als Variable Font angelegt, führt das im Extremfall hier wie dort zur Unlesbarkeit. So zeigt die Gestalterin, „wie Zensur uns von der Wirklichkeit entfremdet, weil durch sie Bindeglieder verloren gehen, die uns helfen, die Welt zu interpretieren“. Ihre Schrift stellt die Gestalterin in ihrem Buch „Kaleidoskop der Zensur“ vor.
Ulrike Rausch, LiebeFonts® (Berlin), weihte das Publikum in die Geheimnisse ganz spezieller Satzschriften ein. Sie ist Expertin für Fonts mit handschriftlicher Anmutung, mit ihrer Vielzahl an Buchstabenvarianten und Ligaturen sehen sie wirklich wie echt geschrieben aus. Bei ihrer neuesten Schrift namens LiebeHeide treibt die Perfektionistin die Illusion des Handschriftlichen geradezu auf die Spitze. Mittels OpenType und Color Font Technologie vermag sie die farblich leicht variierenden Schreibspuren eines Kugelschreibers zu imitieren. Hinzukommen gekritzelte Unter- und Durchstreichungen. Die „Täuschung“ wird damit perfekt. Allerdings sollten Anwender wissen, wie sie die gebotene Vielfalt am Rechner sinnvoll nutzen können.
Höhe- und Schlusspunkt des ersten Konferenztages war die nachträgliche Feier zu Jost Hochulis neunzigstem Geburtstag (im Juni). Er ist Mitbegründer und Mentor der Konferenz und als undogmatischer, feinsinniger Buchgestalter über die Landesgrenzen hinaus hochgeschätzt. So gab es Würdigungen von Jost Kirchgraber, Kay Jun (Verlegerin und Publizistin aus Südkorea), Martin Tiefenthaler und Boris Kochan, bevor Jost Hochuli allen seinen Dank aussprach. Es folgte eine Buchvernissage: Präsentiert wurde die „Typobiografie. Jost Hochuli: Arbeiten aus 60 Jahren“ (Verlagsgenossenschaft St. Gallen). Einen Einblick in Jost Hochulis Schaffen gab auch die Ausstellung im Foyer des Veranstaltungsortes.
Der Begriff Nachhaltigkeit sei eigentlich in aller Munde, jedoch vermissen die beiden Schweizer Grafikdesignerinnen und Designforscherinnen Ladina Ingold und Katharina Scheller dieses wichtige Thema in den Lehrplänen zur visuellen Gestaltung. Ebenso in der Fachliteratur. Es fehle insgesamt an Wertschätzung für ökologisch hergestellte Printprodukte, so ihr Eindruck. In ihrem Buch – zur Zeit noch work in progress – wollen sie Abhilfe schaffen. „New Graphic Standard“, so der Titel, ist ein „Ratgeber zur umweltbewussten Gestaltung und Produktion“ und erscheint im Frühjahr 2024 bei Triest. Die Autorinnen skizzierten den Ansatz, gaben erste Kostproben.
Angemerkt sei hier, dass sich die Schweizer Druckindustrie inzwischen des Themas angenommen hat. Zum Beispiel steht auf viscom.ch die von viscom / p+c erstellte Broschüre „Nachhaltige Beschaffung. Druckbranche“ mit „Empfehlungen für Produkte und Dienstleistungen“ zum Download bereit – auch für Kreative. Zudem sind jetzt zwei Bücher zum Thema erschienen: Marko Haneckes „Nachhaltig drucken. Gestaltung umweltgerechter Druckprojekte“ (Verlag Hermann Schmidt) und Pia Weißenfelds „Nachhaltiges Grafikdesign. Das umfassende Handbuch“ (Verlag Rheinwerk).
Everyday Design: Von Profis mitleidig bis herablassend belächelt wird das allgegenwärtige Grafikdesign von Laien. Dem widmete sich Sarah Owens, Professorin für Visual Communication und Visual Cultures an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie regte an, über das Thema Regelbruch neu nachzudenken. Dieser sei „gekonnt“, wenn ausgebildete Gestalter ihn begehen, und verachtet, wenn Amateure es tun, weil sie die Regeln gar nicht kennen. Aber erfüllen Zettel über entlaufene Katzen und Einladungen zum Kindergeburtstag denn nicht ihren Zweck? Sarah Owens sammelt und forscht seit fünfzehn Jahren zu Everyday Design und möchte Profis und Amateure nicht als Konkurrenten betrachten. Schließlich bleibt als Kernfrage hier wie dort: Was bewirkt Design? Ihr Vortrag kam ohne Bilder aus, die entstehen bekanntlich im Kopf.
Von den bildreichen Werkschauen seien nur zwei erwähnt. Jianping He, vielfach preisgekrönt, ist in Südchina geboren, hat in China studiert, lebt, lehrt und arbeitet in Berlin (hesign), zwischen Deutschland und China pendelnd. Seine Gestaltung spiegelt seine persönliche Entwicklung, verriet er. Fünf Elemente seien für ihn wesentlich, sie strukturierten den Vortrag: Landschaft, Kalligrafie, bildende Kunst, Kreativität, Experiment. Zu erfahren war, wie stark ihn die Berge und Gewässer seiner Heimat prägten. Wie sehr er als Kind das kalligrafische Üben gehasst hat (erst viel später lernte er es zu schätzen). Wie die Auseinandersetzung mit Kunst sein Design beeinflusste. Wie wichtig Kreativität und Experimente sind. Zu allen Bereichen gab es phantastische Arbeitsbeispiele: Plakat-, Logo-, Buch-, Corporate Design. Zuletzt hat Jianping He ein Plakat für die Kieler Woche 2024 entworfen und damit den seit 1948 stattfindenden Plakatwettbewerb gewonnen. Anders als die sehr bunten, lauten Vorgänger strahlt sein geradezu meditatives Plakat mit dem Farbverlauf von Weiß zu Blau Ruhe und Kraft aus. Ohne die Logos der Unterstützer wäre es noch schöner.
Guido de Boer aus den Niederlanden bewegt sich ebenfalls zwischen Grafikdesign und freier Kunst. Schon während des Studiums hat er die Buchstaben und das Schreiben zu lieben begonnen, schließlich machte er es zum Beruf. Anfangs war jedoch die Textfrage ein Problem – was sollte er eigentlich schreiben, an Wände, Mauern, Schaufenster? Inzwischen arbeitet er mit Schlüsselbegriffen wie Reading und Looking, Attention, reflect, WYSIWYG. Am lebendigsten fühlt Guido de Boer sich bei seinen Performances, etwa zur Ausstellung „Not In So Many Words“ im Kröller-Müller-Museum, Otterlo.
Unbedingt erwähnt sei noch der Auftritt von Lilia Glanzmann (Zeughaus Teufen), die den Architekten Andreas Derrer (OOS, Zürich) und den Steinbildhauer Michael Bauer (bauersteine, St. Gallen) auf die Bühne mitbrachte. Beide gaben spannende Einblicke in ihre Arbeit. Von der Unmöglichkeit, manch ausgetüftelten Entwurf in oder auf den Stein zu bringen, berichtete humorvoll-entspannt Michael Bauer. Wobei Diskussionen über Machbarkeit durchaus unerquicklich sein können, denn die meisten Designer wissen nichts über die Beschaffenheit der unterschiedlichen Steine und wie damit umzugehen ist. Manches geht einfach nicht. Michael Bauer selbst hat spaßeshalber einmal die Möglichkeiten ausgereizt, indem er eine handschriftliche Notiz seines Sohnes „in Stein meißelte“ (meißeln ging nicht, aber lasern).
Everything in Motion. Liza Enebeis, Partnerin und Kreativdirektorin beim Studio Dumbar/Dept® setzte am Samstagabend den Schlusspunkt mit einem Feuerwerk aus Animationen, etwa für das North Sea Jazz Festival (https://studiodumbar.com/work/north-sea-jazz) und das selbst gegründete, immer weitere Kreise ziehende Design in Motion Festival, zuletzt mit achtzig Screens und vier Videowänden im öffentlichen Raum, für 24 Stunden: https://demofestival.com/
Die Tÿpo Sankt Gallen endete sonntags mit dem Besuch der Bibliothek Hauptpost. Julia Marti, Co-Verlegerin der Edition Moderne, zeigte an ausgewählten Titeln des Verlags, wie Comics und Graphic Novels entstehen.
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Typo St. Gallen typisch Schweiz?
Zur ersten »Tÿpo« Sankt Gallen luden das Forum Typografie und vor allem die älteste Ausbildungsstätte für Gestaltung in der Schweiz, die Schule für Gestaltung St. Gallen, in die buchhistorisch tief verwurzelte Stadt St. Gallen ein. »Typisch Schweiz« lautete das Motto. Die Vortragenden hielten sich zumeist nicht daran. Die Qualität der Vorträge war aber fast durchweg so hoch, dass man das verpasste Motto verschmerzen konnte.
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Und die Typografie bewegt sich doch! Nach fünf Jahren fand wieder unser Dynamic Font Day in München statt – »endlich wieder«, möchte man sagen! Von 3D-Fonts über eingebettete Schriftdynamik bis hin zu parametrisierbarer Designsoftware wurden die neuesten Entwicklungen vorgestellt und diskutiert. Und ja: Eine Weltpremiere gab es auch!
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