Typo St. Gallen typisch Schweiz?
Typisch Schweiz
Zuerst zum Schweizerischen. Werkschauen von Bruno Monguzzi, Ralph Schreyvogel und Romano Hänni informierten über typische Schweizer Gestalter und ihre Arbeiten. Dabei handelte es sich um sehr eigenwillige Plakate. Für die vielen jungen Teilnehmerinnen war es sehr interessant zu sehen, wie die komplizierten handwerklichen Verfahren vor dem Computerzeitalter angewendet wurden.Bei Romano Hänni stand die Entstehung der Typografie der Basler Zeitung ab 1983 im Vordergrund. Die Zeitung galt schon seit 1977 als Vorbild für das Zeitungsdesign, weil sie damals von Karl Gerstner (von der Times gesetzt) neu gestaltet worden war. Hänni zeigte nun mit dieser Zeitung seinen Weg, der mit technischen Umstellungen (Bleisatz auf Mac, Buchdruck auf Offset) verbunden war. Und ganz typokünstlerisch zeigt sich Hänni in seiner Arbeit zur Chemiekatastrophe in Basel 1987.
Typografie-»Spitzlichter«
Jost Hochuli, den die meisten in Deutschland als »die« St. Galler Typografie ansehen, hat Tschicholds »Neue Typographie« neu gelesen. Und für die jüngere Generation schickte er einige Erläuterungen zum historischen Wissen voraus: Jugendstil, der starke Einfluss Lissitzkys, der Unterricht in der Münchner Schule unter Renner und das Heft »Elementare Typografie« von 1926. 1928 erschien die »Neue Typografie« in einer Auflage von 5000 Exemplaren. Erst Jahrzehnte später erschien ein Nachdruck. Dennoch war das Buch unter Typografen enorm bekannt.
Der Inhalt ist geprägt vom kulturellen Wandel, einer neuen Weltauffassung und der Aufbruchstimmung nach der Oktoberrevolution 1917, die zur Sowjetunion führte. Ökonomie und Präzision waren für Tschichold entscheidend für die Reinheit der Gestaltung. Die Klarheit der Typografie sollte vor allem durch die Funktion des Textes erreicht werden. Daraus ergab sich für Tschichold zwingend die asymmetrische Anordnung der Gestaltungselemente. Bei der Wahl der Schriften lehnte Tschichold gebrochene Schriften, aber auch Antiquaschriften ab. Nur eine Groteskschrift sollte verwendet werden, vorzugsweise die Akzidenz-Grotesk (Kochs Kabel war ihm zu persönlich). Tschichold versuchte sich an einer eigenen neuen Schrift, die heute kunstgewerblich wirken mag. Viel Wert wird auf die Dynamik der Gestaltung gelegt, und die neue Normierung (DIN-Formate) wird begeistert begrüßt. Ab 1938 machte Tschichold dann alles anders und begann mit einer axialen Gestaltung zu arbeiten.
Dann der Auftritt von Gerrit Noordzij (ich erinnere mich an seine Vorträge vor der tgm in den 70er Jahren). Zwei Schultafeln werden hochgezogen und Noordzij vergleicht zunächst die Studenten mit Dorfschülern, was wohl mit seinen Theorien zur Schreiberziehung zu tun hat. Er vergleicht die Primitivität einer Kinderzeichnung mit der notwendigen Einfachheit der Kartographie. Legasthenie als Wahrnehmungsstörung, Wortblindheit vergleicht er mit Betriebsblindheit (deshalb muss man nicht zum Augenarzt).
Drei Bereiche dürfen nicht verwechselt werden: Sprache, Orthografie und Schrift. Sprachen entwickeln sich, die Schrift ist 5000 Jahre alt und die Rechtschreibung wird von Beamten gemacht. Vielleicht etwas philosophisch fragt Nordzey zum Schluss: Was ist der Umriss eines Zeichens? Und kommt zu dem Schluss, dass der Inhalt stimmiger wäre und der Umriss verlorene Zeit.
Martin Tiefenthaler steht Großbuchstaben kritisch gegenüber. Schon Jakob Grimm warnte 1854 vor zu vielen Großbuchstaben, und am Bauhaus sah es zunächst recht »versal« aus, bis die Ideologie der Kleinschreibung sich durchsetzte. Schriften wurden in der Frühzeit der Typografie nicht gemischt. Das kam erst nach der Schriftreform Karls des Großen um 800. Die Monumentalisierung von Schrift und Typografie brachte die Versalien und die Initiale hervor.
An zahlreichen Beispielen zeigte Tiefenthaler den Missbrauch der Versalien bei politischen und religiösen Aufrufen. Viele halten Versalien wohl für schönere, weil ornamentalere Zeichen und wollen eine künstliche Autorität schaffen (was eine sehr aktuelle Tendenz berührt).
Paulus M. Dreibholz beantwortet die Frage, ob es die »Schweizer Typografie« noch gibt, mit einem klaren Ja! Nämlich als internationale Marke, internationaler Stil und die Vorbilder werden stark absorbiert. Der in London lehrende Dreibholz sucht nach Wegen, sich der Schweizer Typografie zu nähern. Er spricht über den Zusammenhang zwischen dem Schaffen im Design und dem Bewusstsein der Gestalter. Ständige Bewusstheit kann die Kreativität behindern, ist aber notwendig. Naivität lasse Raum für Fragen, Arroganz des Gestalters bewirke das Gegenteil. Intuition beruhe auf verinnerlichten Erfahrungswerten und nicht auf einem Bauchgefühl.
Dreibholz kritisiert, dass heute viele Kommunikationsdesign studieren, um einen Titel zu erlangen, wobei das eigentliche »Lernen« in den Hintergrund rücke. Design dürfe aber nicht nur Theorie sein, sondern müsse praktisch geübt und auch gemacht werden. Bewusstseinsbildung braucht Zeit. Die Werte, die ein Gestalter erreicht, sind entscheidend und führen dann vielleicht zu einem verantwortungsvollen Gestalten. (Foto: Paulus M. Dreibholz)
Man merkt Jan Middendorp seine Freude an der Typografie an. Er plädiert für ein »Aufräumen« in der Typografie. Damit meint er allerdings nicht die Gestalterpersönlichkeiten, die mit einer oder maximal drei Schriften auskommen und damit schon genug »aufgeräumt« haben. Die Schrift als Träger von Ideen kann in ihrer Vielfalt ein wesentlicher Träger dieser Ideen sein. Sicherlich ist eine Beschränkung in der Gestaltung sinnvoll, da sie eine Ordnung fördert. Wenn es nicht eine postmoderne Metapher wäre, könnte man den Zweifel als Dachschrift auf dem Palast der Republik bildlich nehmen.
St. Gallen pur
Am Sonntagmorgen dann das Eintauchen in die »Herkunft«, in die Geschichte der Typografie und des Buches. Wieder stand ich begeistert und sprachlos im Bibliothekssaal der Stiftsbibliothek. Dann ein genial reduzierter Vortrag von Beat von Scarpatetti über die Geschichte der Schrift und der Codices von 900 bis zum Beginn des Buchdrucks. Wie kann man mit so wenigen Beispielen wirklich bewusst machen, was Schrift zwischen Vergilius, der römischen Kapitalis, der karolingischen und Rätschen Minuskel bis zum oberrheinischen Gotico von 1470 bedeutet!
In der Vadiana, der Bibliothek des Kantons St. Gallen, zeigte Rudolf Gamper Schätze aus der Handschriften- und Inkunabelsammlung. Viele der Drucke stammen aus einer St. Galler Druckerei, die Leonhard Straub erst 1578 gegründet hatte. Darunter befinden sich Thesenblätter zu medizinischen Fragen, Abhandlungen zur Alchemie oder Textilmuster. Schriften stammen von anderen Druckern, etwa aus Wien oder Italien.
Ursula Rautenberg, derzeit Gastprofessorin in St. Gallen, stellte ein frühes Massenbuch in seinem Wandel durch die Zeiten vor. Wobei sie das Massenbuch dem bibliophilen Projekt vorzog. Die »schöne Melusine« (ein Forschungsprojekt an ihrem Erlanger Lehrstuhl für Buchwissenschaft) wurde hier zwischen 1480 und 1800 vorgestellt. Vom akribisch gegliederten spätmittelalterlichen Buch bis zum Buch aus der »Romanfabrik« um 1800, in dem beispielsweise die Bilder keinen direkten Bezug mehr zum Text haben, führte Ursula Rautenberg in ihrer wissenschaftlichen, aber sehr anschaulichen Sprache einen spannenden Prozess durch die Jahrhunderte. Ein rundum erfreulicher Abschluss einer sehr gelungenen Tagung in St. Gallen.
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