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Die Art, wie gelesen wird, ist der Maßstab für die Buch­ge­staltung – nicht Typo­grafen-Tradi­tionen, Ideo­logien oder Meinungen.
Hans Peter Willberg

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Typo St. Gallen typisch Schweiz?

Rudolf Paulus Gorbach
11. Dezember 2011
Zur ersten »Tÿpo« Sankt Gallen luden das Forum Typo­grafie und vor allem die älteste Ausbil­dungs­stätte für Gestaltung in der Schweiz, die Schule für Gestaltung St. Gallen, in die buch­his­torisch tief verwurzelte Stadt St. Gallen ein. »Typisch Schweiz« lautete das Motto. Die Vortra­genden hielten sich zumeist nicht daran. Die Qualität der Vorträge war aber fast durchweg so hoch, dass man das verpasste Motto verschmerzen konnte.
Basler Zeitung, Design ab 1977 und Nuegestaltung ab 1983.
Altes Layout der Basler Zeitung von 1977 bis 1983 und die erste Ausgabe der Neugestaltung ab 1983 (Abbildung skaliert)

Typisch Schweiz

Zuerst zum Schwei­ze­rischen. Werk­schauen von Bruno Monguzzi, Ralph Schreyvogel und Romano Hänni infor­mierten über typische Schweizer Gestalter und ihre Arbeiten. Dabei handelte es sich um sehr eigen­willige Plakate. Für die vielen jungen Teil­neh­me­rinnen war es sehr inter­essant zu sehen, wie die kompli­zierten hand­werk­lichen Verfahren vor dem Compu­ter­zeitalter ange­wendet wurden.Bei Romano Hänni stand die Entstehung der Typo­grafie der Basler Zeitung ab 1983 im Vordergrund. Die Zeitung galt schon seit 1977 als Vorbild für das Zeitungs­design, weil sie damals von Karl Gerstner (von der Times gesetzt) neu gestaltet worden war. Hänni zeigte nun mit dieser Zeitung seinen Weg, der mit tech­nischen Umstel­lungen (Bleisatz auf Mac, Buchdruck auf Offset) verbunden war. Und ganz typo­künst­lerisch zeigt sich Hänni in seiner Arbeit zur Chemi­e­ka­ta­s­trophe in Basel 1987.

Typo­grafie-»Spitz­lichter«

Jost Hochuli, den die meisten in Deut­schland als »die« St. Galler Typo­grafie ansehen, hat Tschi­cholds »Neue Typo­graphie« neu gelesen. Und für die jüngere Gene­ration schickte er einige Erläu­te­rungen zum histo­rischen Wissen voraus: Jugendstil, der starke Einfluss Lissitzkys, der Unterricht in der Münchner Schule unter Renner und das Heft »Elementare Typo­grafie« von 1926. 1928 erschien die »Neue Typo­grafie« in einer Auflage von 5000 Exem­plaren. Erst Jahr­zehnte später erschien ein Nachdruck. Dennoch war das Buch unter Typo­grafen enorm bekannt.

Jost Hochuli bei seinem Vortrag zu Tschicholds »Neue Typographie« (Abbildung skaliert)
Jost Hochuli bei seinem Vortrag zu Tschicholds »Neue Typographie« (Abbildung skaliert)

Der Inhalt ist geprägt vom kultu­rellen Wandel, einer neuen Welt­auf­fassung und der Aufbruch­stimmung nach der Okto­ber­re­vo­lution 1917, die zur Sowje­tunion führte. Ökonomie und Präzision waren für Tschichold entscheidend für die Reinheit der Gestaltung. Die Klarheit der Typo­grafie sollte vor allem durch die Funktion des Textes erreicht werden. Daraus ergab sich für Tschichold zwingend die asym­me­trische Anordnung der Gestal­tungs­elemente. Bei der Wahl der Schriften lehnte Tschichold gebrochene Schriften, aber auch Anti­qua­schriften ab. Nur eine Grotesk­schrift sollte verwendet werden, vorzugsweise die Akzidenz-Grotesk (Kochs Kabel war ihm zu persönlich). Tschichold versuchte sich an einer eigenen neuen Schrift, die heute kunst­ge­werblich wirken mag. Viel Wert wird auf die Dynamik der Gestaltung gelegt, und die neue Normierung (DIN-Formate) wird begeistert begrüßt. Ab 1938 machte Tschichold dann alles anders und begann mit einer axialen Gestaltung zu arbeiten.

AUszug aus Tschicholds »Neue Typographie«
Auszug auss Tschicholds »Neue Typographie« (Abbildung skaliert)

Dann der Auftritt von Gerrit Noordzij (ich erinnere mich an seine Vorträge vor der tgm in den 70er Jahren). Zwei Schul­tafeln werden hoch­gezogen und Noordzij vergleicht zunächst die Studenten mit Dorf­schülern, was wohl mit seinen Theorien zur Schrei­ber­ziehung zu tun hat. Er vergleicht die Primi­tivität einer Kinder­zeichnung mit der notwendigen Einfachheit der Karto­graphie. Legas­thenie als Wahr­neh­mungs­störung, Wort­blindheit vergleicht er mit Betriebs­blindheit (deshalb muss man nicht zum Augenarzt).

Drei Bereiche dürfen nicht verwechselt werden: Sprache, Ortho­grafie und Schrift. Sprachen entwickeln sich, die Schrift ist 5000 Jahre alt und die Recht­schreibung wird von Beamten gemacht. Viel­leicht etwas philo­so­phisch fragt Nordzey zum Schluss: Was ist der Umriss eines Zeichens? Und kommt zu dem Schluss, dass der Inhalt stimmiger wäre und der Umriss verlorene Zeit.

In seinen Theorien zur Schreiberziehung vergleicht Noordzij zunächst die Studenten mit Dorfschülern. (Abbildung skaliert)
In seinen Theorien zur Schreiberziehung vergleicht Noordzij zunächst die Studenten mit Dorfschülern. (Abbildung skaliert)

Martin Tiefen­thaler steht Groß­buch­staben kritisch gegenüber. Schon Jakob Grimm warnte 1854 vor zu vielen Groß­buch­staben, und am Bauhaus sah es zunächst recht »versal« aus, bis die Ideologie der Klein­schreibung sich durch­setzte. Schriften wurden in der Frühzeit der Typo­grafie nicht gemischt. Das kam erst nach der Schrift­reform Karls des Großen um 800. Die Monu­men­ta­li­sierung von Schrift und Typo­grafie brachte die Versalien und die Initiale hervor.

An zahl­reichen Beispielen zeigte Tiefen­thaler den Miss­brauch der Versalien bei poli­tischen und reli­giösen Aufrufen. Viele halten Versalien wohl für schönere, weil orna­men­talere Zeichen und wollen eine künstliche Autorität schaffen (was eine sehr aktuelle Tendenz berührt).

Auch die Nationalsozialisten setzten auf die autoritäre Wirkung der Versalien. (Abbildung skaliert)
Natürlich setzten auch die Nationalsozialisten auf die autoritäre Wirkung der Versalien. (Abbildung skaliert)

Paulus M. Dreibholz beant­wortet die Frage, ob es die »Schweizer Typo­grafie« noch gibt, mit einem klaren Ja! Nämlich als inter­na­tionale Marke, inter­na­ti­onaler Stil und die Vorbilder werden stark absorbiert. Der in London lehrende Dreibholz sucht nach Wegen, sich der Schweizer Typo­grafie zu nähern. Er spricht über den Zusam­menhang zwischen dem Schaffen im Design und dem Bewusstsein der Gestalter. Ständige Bewusstheit kann die Krea­tivität behindern, ist aber notwendig. Naivität lasse Raum für Fragen, Arroganz des Gestalters bewirke das Gegenteil. Intuition beruhe auf verin­ner­lichten Erfah­rungs­werten und nicht auf einem Bauch­gefühl.

Dreibholz kritisiert, dass heute viele Kommu­ni­ka­ti­ons­design studieren, um einen Titel zu erlangen, wobei das eigentliche »Lernen« in den Hintergrund rücke. Design dürfe aber nicht nur Theorie sein, sondern müsse praktisch geübt und auch gemacht werden. Bewusst­seins­bildung braucht Zeit. Die Werte, die ein Gestalter erreicht, sind entscheidend und führen dann viel­leicht zu einem verant­wor­tungs­vollen Gestalten. (Foto: Paulus M. Dreibholz)

leere weiße, unterschiedlich große, mittig gefalzte Blätter

Man merkt Jan Middendorp seine Freude an der Typo­grafie an. Er plädiert für ein »Aufräumen« in der Typo­grafie. Damit meint er allerdings nicht die Gestalt­er­per­sön­lich­keiten, die mit einer oder maximal drei Schriften auskommen und damit schon genug »aufgeräumt« haben. Die Schrift als Träger von Ideen kann in ihrer Vielfalt ein wesent­licher Träger dieser Ideen sein. Sicherlich ist eine Beschränkung in der Gestaltung sinnvoll, da sie eine Ordnung fördert. Wenn es nicht eine post­moderne Metapher wäre, könnte man den Zweifel als Dach­schrift auf dem Palast der Republik bildlich nehmen.

St. Gallen pur

Am Sonn­tag­morgen dann das Eintauchen in die »Herkunft«, in die Geschichte der Typo­grafie und des Buches. Wieder stand ich begeistert und sprachlos im Biblio­thekssaal der Stifts­bi­bliothek. Dann ein genial redu­zierter Vortrag von Beat von Scar­patetti über die Geschichte der Schrift und der Codices von 900 bis zum Beginn des Buch­drucks. Wie kann man mit so wenigen Beispielen wirklich bewusst machen, was Schrift zwischen Vergilius, der römischen Kapitalis, der karo­lin­gischen und Rätschen Minuskel bis zum ober­rhei­nischen Gotico von 1470 bedeutet!

historische Stiftsbibliothek, St. Gallen
Die historische Stiftsbibliothek zu St. Gallen (Abbildung skaliert)

In der Vadiana, der Bibliothek des Kantons St. Gallen, zeigte Rudolf Gamper Schätze aus der Hand­schriften- und Inku­na­bel­sammlung. Viele der Drucke stammen aus einer St. Galler Druckerei, die Leonhard Straub erst 1578 gegründet hatte. Darunter befinden sich Thesen­blätter zu medi­zi­nischen Fragen, Abhand­lungen zur Alchemie oder Textil­muster. Schriften stammen von anderen Druckern, etwa aus Wien oder Italien.

Bernhard Richel 1473 / 74
Zwei aufeinanderfolgende Doppelseiten: Basel: Bernhard Richel 1473 / 74, ULB Darmstadt, Inc. IV 94 (aus dem Besitz der Herren von Lentersheim bei Ehingen vor 1485), Bl. 88v–90r., Satzspiegel: 20,8 × 13,4 cm

Ursula Rautenberg, derzeit Gast­pro­fessorin in St. Gallen, stellte ein frühes Massenbuch in seinem Wandel durch die Zeiten vor. Wobei sie das Massenbuch dem biblio­philen Projekt vorzog. Die »schöne Melusine« (ein Forschungs­projekt an ihrem Erlanger Lehrstuhl für Buch­wis­sen­schaft) wurde hier zwischen 1480 und 1800 vorge­stellt. Vom akribisch geglie­derten spät­mit­tel­al­ter­lichen Buch bis zum Buch aus der »Roman­fabrik« um 1800, in dem beispielsweise die Bilder keinen direkten Bezug mehr zum Text haben, führte Ursula Rautenberg in ihrer wissen­schaft­lichen, aber sehr anschau­lichen Sprache einen span­nenden Prozess durch die Jahr­hunderte. Ein rundum erfreu­licher Abschluss einer sehr gelungenen Tagung in St. Gallen.

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