Typo-Trigger Berlin 2018 – ein Rückblick
Die Typo Berlin, diesmal unter dem Thema »Trigger« (welches vielleicht keine große Rolle spielte), hat sich zu einer sehr umfangreichen Veranstaltung entwickelt, Rekordzahlen an Zuhörern, Rekordzahlen an Rednern und Akteuren, denen man ohnehin nicht allen folgen kann. Zudem hat sich die Typo immer weitergehend entwickelt und ich habe den Eindruck, dass Typografie zwar vorkommt, aber in der Publikumswahrnehmung die visuelle Kommunikation vorherrscht. Es gibt verschiedene »Talk«-sorten wie Talent-, Brand-, Star-Talks – und oft sind es eben Talks statt Vorträge. Die einst von Fontshop iniziierte Konferenz wird heute von der mächtigen Schriftmutter Monotype getragen. Jürgen Siebert ist dabei nach wie vor der leitende Mr. Typo.
Frank Rausch: Typografie im Web mit höchster Qualität
Doch beginnen wir tatsächlich mit Typografie. Mikrotypografie im Web ist möglich. Frank Rausch stellt unter dem Titel »Die neue Typografie« seine App »V for Wiki« vor. Dabei betont er, dass Text und Sprache vor dem Bild steht, also wichtiger ist.
Die Grundregeln der Typografie werden im Web nicht ernst genommen, weshalb zum Beginn der digitalen Zeit alles grausig aussah. Inzwischen sind aber die Möglichkeiten viel besser geworden. Doch fehlt da oft die technische Kompetenz bei den Machern, sowie d Kontrolle über die digitalen Bereiche. Entscheidend ist der Programmcode. Aber wer schreibt den Programmcode auch für Inhalte, die wir nicht noch nicht kennen? Bessere Werkzeuge für Typografen sind erforderlich, um eine App zu »bauen«, die Inhalte lesbar macht.
Das ist bei »V for Wiki« der Fall. Man kann den Text gut lesen dank der sehr guten Schrift »Diogenes« von Ludwig Übele und der Komet von Jan Fromm. Die magischen Punkte der Typografie sieht Rausch angewandt auf die Kontrolle über die Software, die wiederum die Möglichkeiten für die Typografie startet. Mikrotypografie ist endlich möglich, selbst verringerte Leerzeichen. Beim Text auf Bildern werden die Farben analysiert und eine passende Farbe ausgesucht. Da Typografen keinen Code schreiben, ergibt sich ein Problem, doch stellt Rausch als Open Source zur Verfügung. (typographizer.com)
Antonia Cornelius über Lesbarkeit und Lesen
Eine gut strukturiert und dargestellte Zusammenfassung der Themen Lesbarkeit und Lesen brachte Antonia Cornelius bereits am Anfang der Typo. Sie fasste alles Grundsätzliche zusammen. Das fing bei der Wahrnehmung an und endete beim Lesen von gestalteten Seiten. Viele von ihr gestaltete Seiten der Präsentation wirkten besonders plausibel. Lesbarkeit, Leserlichkeit ist ein Bereich, der vielleicht so manchem Gestalter nicht sehr vertraut ist. Das hat Antonia Cornelius in unprätenzierter Art dargestellt, ohne das oft so peinliche selbstverliebte Gehample auf der Bühne. Ihr Buch zu diesem Thema ist bei Schmidt in Mainz erschienen. Übrigens sogar eine Masterarbeit, die hier einen guten Start der Autorin auch in die theoretische Szene der Typografie erwarten lässt. (Buchstaben im Kopf. Was Kreative über das Lesen wissen sollten, um Leselust zu gestalten. Hermann Schmidt Verlag Mainz 2017).
Ansätze zur Forschung?
Forschung in der Typografie könnte ein lohnenswertes Thema sein. Nur braucht das aber auch Ergebnisse oder Zwischenergebnisse. Vielleicht sollte erst mehr geforscht werden und nicht schon jede Masterarbeit auf der Typo vorgestellt werden. Das Statement der möglichen Voraussetzungen, wie Bettina Andresen zum Lesen bei legasthenen Menschen berichtet hat, könnte ein Anfang hierfür sein. Und vielleicht kommt man in diesem Komplex als Typografin allein nicht weiter. Aber warten wir ab, was sich hier weiter entwickelt. Jedenfalls sind auch die bisher erschienen Schriften für Legastheniker nicht gerade überzeugend {Open Dyslexic, Andica Basic, Sylexiad Sans).
Ulrike Rausch über die Nachahmung des Schreibens
Begeisterung über das Schreiben ist bei Ulrike Rausch zu spüren. Sie beklagt vorgegaukelte Handschriften, denen der handgemachte Charme, als das eigentlich Geschriebene fehlt. Üppige Varianten wären ja unter OpenType-Featchers möglich.
In ihrer Schrift »Liebe Doris«, die bei Kentucky Chicken leider nicht konsequent verwendet wird, gibt es je 4 Varianten der Zeichen. Alle Schnitte sind einzeln gezeichnet.
Bei der Schrift »Liebe Gerda« erkennen Features die schon verwendeten Zeichen und nehmen das nächste mögliche Zeichen.
Open type Extras müssen auch benutzt werden, obwohl sie versteckt und schlecht bezeichnet sind. Deshalb bot Ulrike Rausch innerhalb ihres Vortrags einen Mini-Workshop. Es lohnt sich, diesen Vortrag unter TypoTalks.com anzusehen. Ihren Schriften ist auch immer ein kleines Tutorial beigefügt, sodass die Arbeit des Grafikers betont unterstützt wird. Im Vortrag ging sie nämlich auf InDesign, Pages, Affinity-Designer und Word ein. Und da bietet sich eine erstaunliche Vielfalt. Das ist alles so interessant, dass es auch mir, als eher strengem Typografen, sogar Spaß machen könnte.
Gerd Fleischmann und Schwitters’ Thesen zur Typografie
Gerd Fleischmann hat sich Kurt Schwitters’ »Thesen zur Typografie« angesehen und analysiert. Das so gern benutzte Zitat »Typografie kann unter Umständen Kunst sein« stammt hieraus und stiftet ziemlich viel Verwirrung, da Typografie und besonders die von »nicht Wissenden« eben keine Kunst ist sondern gestaltendes Handwerk. In den letzten Jahrzehnten tauchten ja sehr oft Künstler auf, die mit Buchstaben arbeiteten. Deshalb wurden Sie in der Kunstkritik häufig auch in die Nähe der Typografie eingeordnet. Doch macht die Verwendung von Schriftzeichen noch keinen Typograf.
Kurt Schwitters war bildender Künstler, beschäftigte sich nebenbei und für den Broterwerb auch ein wenig mit Typografie. Er hat 1924 in seiner Zeitschrift MERZ, der Typo-Reklame- oder Pelikan-Nummer, 10 Thesen zur Typographie veröffentlicht. »Die Kunstwissenschaft hat diese Thesen immer wieder zitiert und wie eine Monstranz vor sich hergetragen, bisher aber nie gefragt, was sie für die Typografie bedeuten« (Fleischmann). Bereits im Vortext heißt es bei Schwitters: »Mach es niemals so, wie es jemand vor dir gemacht hat«. Daß das im Fall von Typografie barer Unsinn ist, hätte man auch schon damals wissen können. »Heute beginnt die Reklame ihren Irrtum der Wahl von Individualisten einzusehen und bedient sich statt der Künstler für ihre Reklamezwecke der Kunst, oder deutlicher gesagt: DER TYPOGRAPHIE«, so nochmals Schwitters.
Im Grund bleibt nach der Analyse der zehn Thesen nichts Brauchbares für Gestalter. Fleischmanns Analyse geht auch auf Zeitgenossen und Tendenzen ein, die unsere Zeit betreffen. Ich wünschte mir Fleischmanns Vortrag als Essay in Buchform, um diese Kritik bekannt zu machen. Und im übrigen spricht all dies nicht gegen Schwitters als großartigen bildenden Künstler.
Rudolf Paulus Gorbach
Spread your Wings! Oder was wir von der diesjährigen Typo lernen können
Vielleicht habe ich in diesem Jahr der Typo unrecht getan. Denn am Samstagabend fiel der Entschluss, im nächsten Jahr mal nicht hinzufahren. Irgendwie zu viele Brand Talks. Irgendwie zu viele Vorträge, die inhaltlich nicht wirklich dicht (ich hasse das Wort, aber Ihr wisst, was ich meine!) waren. Zu wenige Menschen, die wirklich Dinge weit ab vom Weg machen. Doch während ich jetzt in Ruhe noch mal alle Vorträge anhöre (das finde ich übrigens absolut großartig, dass man die Dinge nochmal nachhören oder überhaupt hören kann! Danke dafür!), komme ich zu dem Schluss, dass zumindest die Vorträge, über die ich hier schreibe, eine wichtige Botschaft für die Welt der Typografen und Grafikdesigner beinhalteten, eine Botschaft, die sich mir allerdings in Berlin vor Ort zunächst nicht erschlossen hat. Und diese Botschaft lautet: Schaut über euren Tellerrand! Macht mal was anderes! Beginnt bei Null! Lauft mit dem Kopf gegen die Wand, weil ihr einfach nicht wisst, wie es geht, und weil ihr es erst lernen müsst. Das nämlich hilft der Kreativität wirklich auf den Sprung. Das Gehirn wird dabei tüchtig durcheinander geschüttelt. Und nur wenn der Grafikdesigner selbst Texte schreibt, Filme macht, Möbel baut etc., nimmt er am genuin kreativen Prozess teil. Und wäre das nicht schön? Mal was anderes? Ohne unser aller Arbeit runtermachen zu wollen (die ist super wichtig und hilft den Inhalten oft überhaupt erst, gelesen, gehört und gesehen zu werden, wir wissen es alle!), es schadet überhaupt nichts, etwas anderes auszuprobieren!
Briar Levit
Briar Levit berichtete auf der Typo in ihrem Vortrag über den interessanten (Selbst-)Versuch, als Grafikdesignerin einen Film zu machen. Vorbilder waren dabei unter anderem Ray and Charles Eames, die nie „nur“ Möbeldesigner waren. Die erste Erfahrung, die Levit machte, war erschreckend, stellte sich im Nachhinein aber als äußerst gewinnbringend heraus: Wenn man sich in einen vollkommen neuen Bereich vorwagt, fühlt man sich wieder wie ganz am Anfang seines Studiums oder seiner Ausbildung, als man noch keine Ahnung hatte, wie die Dinge laufen. Raus aus der Komfortzone, wie es neudeutsch so schön heißt! Denn es kann für den kreativen Denkprozess nur von Nutzen sein, sich nicht mehr sicher zu fühlen, sondern an seine Grenzen zu stoßen. Und gerade für Grafikdesigner kann es eine großartige Erfahrung sein, etwas genuin Eigenständiges zu erschaffen. Sind sie doch sonst immer „nur“ diejenigen, die einem Ganzen eine ansprechende, lesbare, hippe, etc. Form verleihen. Ich muss an dieser Stelle wohl kaum erwähnen, dass wir uns einig sind, dass das „nur“ in Anführungszeichen stehen muss. Aber für Grafikdesigner und Typografen ist der Inhalt eben stets schon gegeben. Darüber hinaus verleiht etwas Eigenes zu machen auch Macht; Chef im kreativen Gesamtprozess zu sein; einmal sagen, wo es langgeht; aussuchen, mit wem man zusammen arbeitet, z. B. mit einem Team, das nur aus Frauen besteht; wie es gemacht wird und wie das Ganze ablaufen soll. Wer hätte nicht schon davon geträumt? Und Briar Levit verfolgte diesen Traum und machte einen Film darüber, wie früher Grafikdesign gemacht wurde. Ein Thema, das sie schon seit Langem fasziniert hatte, und von dem ihr eines Tages bewusst wurde, dass Film das ideale Medium wäre, um sich diesem Thema zu widmen. Denn vieles lässt sich leichter erklären, wenn man sehen kann, wie etwas arbeitet, zum Beispiel eine Linotypemaschine. In bewegten Bildern also. „Ignorance is bliss“ wurde nun ihr Motto, denn sie wusste, wenn sie zu lange darüber nachdenken würde, würde sie sich nicht mehr an die Sache herantrauen. Ignorance also, jedenfalls, bis man sich wirklich für eine Sache entschieden hat, bis man dafür brennt. Dann sollte man sich natürlich schon kundig machen und sich vor allem mit Leuten zusammentun, die wirklich Ahnung von dem haben, was sie tun. Am Ende stand der Film „Graphic Means: A History of Graphic Design Production“. Es war die Sache wert. Und ach ja: als Nächstes schreibt sie ein Buch …
Aaron James Draplin
In eine ganz ähnliche Richtung ging auch der Vortrag von Aaron James Draplin; dieses den regelmäßigen Typo-Besuchern schon bekannte, humorvoll veranlagte Unterhaltungstalent ist ja bekanntermaßen ein Mann, der seine Begabungen in viele Richtungen streut. Und der offensichtlich von morgens bis abends gestaltet: den Wahlkampf von Obama, Notizhefte, die Partyeinladungen zum Geburtstag seines Neffen und das Begräbnis seines Vaters (Gesamtkunstwerk!). Logos, solche, die richtig gut bezahlt werden, und solche, für die man einen Burrito bekommt. Buttons, Bleistifte, Aufkleber, Tassen, einfach weil es Spaß macht, sie zu gestalten. 372 Vorträge in sieben Jahren. Ein Buch mit 40.000 verkauften Exemplaren. Eine Schrift. Dazu sagt er seinem Architekten, wie genau sein neues Büro auszusehen hat (oh my God, er musste ausziehen und mit ihm seine unglaubliche Sammlung an Farben und Gegenständen!), auch deswegen weil er nicht möchte, dass seine Mutter zu nahe an ihm dran wohnt. Auch wenn sie gerne bei ihm wohnen darf. Und warum das alles? Erstens kann man schon glücklich genug sein, wenn man den wunderbaren Beruf eines Grafikdesigners hat. Was man nicht erwarten darf, ist, dass jeder bezahlte Auftrag Spaß macht. Also sollte man zumindest in seiner Freizeit Sachen gestalten, die ausschließlich Spaß machen und mit denen man vielleicht sogar noch Gutes bewirken kann (zweitens). Und drittens, weil das eventuell zu großem Erfolg führt, weil man nämlich besser und besser wird, je öfter man über den Tellerrand blickt und etwas anderes macht.
Fidel Peugeot
Fidel Peugeot verhalf der Marien-Apotheke in Wien zu einem vollkommen neuen Erscheinungsbild, wobei sich Erscheinungsbild nicht nur auf das CD bezieht, sondern auf alles: Eine neue Schrift; Sweatshirts, auf denen steht, dass man herzlich willkommen ist in der Marien-Apotheke; Produktreihen wie Seife, Parfum, Bonbons und Pflaster; Newsletter; Geschenke; Kalender; Gehörlosenvideos; die Webseite; Werbefilme; die Inneneinrichtung der Läden; sogar die Verkaufsräume mit passenden Regalen; Taschen; ein Baunetz; Möbel, Steh-, Fuß- und Hängelampen aus Blisterverpackungen: „Wir wären beinah Lichtdesigner geworden!“ Und natürlich braucht nicht erwähnt zu werden, dass sich aus dem Erfolg dieser ganzen Aktionen zahlreiche weitere und sehr prestigeträchtige Aufträge ergeben haben. Explizit gesagt werden sollte jedoch vielleicht, dass man dazu auch wagemutige Kunden braucht. Auch die müssen über den Tellerrand sehen können…
Underware, Kees ’t Hart, Jacq Palinckx: The Tale of the Cat
Angeblich sollte dieser anregende, lustige und wirklich aus der Reihe tanzende Vortrag die Frage beantworten: „What are you actually doing?“ Jedoch sind der Ansatz von Underware wie auch ihr Vortragsstil so unkonventionell, dass sich das auch danach nicht leicht in Worte fassen lässt, schon gar nicht, wenn noch irgendjemand diesen Blog lesen soll. Und weil sich die Leute von Underware freuen, wenn jemand überhaupt nicht versteht, was sie machen. So ist also Transparenz kein wirkliches Anliegen. Aber ich will es mal versuchen: Sie machen Schriften. Doch wird dieser Prozess bei Underware philosophischsemiotischlinguistischhistorischpädagogisch aufgefasst. Und dazu kommt dann ganz viel Spiel: Logos, die sich kaum lesen, dafür aber auf den Kopf stellen lassen, und Buchstaben, die gleichzeitig wi e Bilder aussehen, Reduzierung und Erweiterung von Buchstaben (auch ein E mit vier Querstrichen kann immerhin auch noch als E gelesen werden!). Und wäre es nicht schön, wenn ein Buchstabe dicker und dünner werden könnte? Ja, variable fonts. (Was man wie „very-able-fonts“ ausspricht und nicht wie „Were-I-able-fonts“!) Dazu die lustigste Arno-Schmidt-Lesung ever! Also im Grunde auch hier der Aufruf, die Dinge aus vollkommen anderen Perspektiven zu betrachten, um Ecken zu denken, die Dinge auf den Kopf zu stellen.
Elizabeth Carey Smith: Type in Couture
Nicht so gut gefallen hat mir ehrlich gesagt der Vortrag von Elizabeth Carey Smith über Typografie und Mode. Zumal es ja schon einige Veröffentlichungen zu diesem Thema gibt, mit deren Erkenntnissen sich der Vortragende dann wohl oder übel vergleichen lassen muss. Zuhörern, die sich noch nie mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, wären sicher einige einführende Gedanken und ein wenig Grundlagenwissen recht gewesen, Zuhörer, die sich bereits auskennen, hätten sich sicherlich mehr Stringenz und Kohärenz gewünscht. So gab es beispielsweise nach langer Ausführung darüber, dass die Vogue lange Zeit ihren Schriftzug nicht vereinheitlicht hat, keine Erklärung dazu, wann das schließlich geändert wurde und warum. In den 1950er und 1960er Jahren wurde es nämlich den Illustratoren der damals noch zweimal monatlich erscheinenden Zeitschrift überlassen, den Schriftzug zusammen mit der Coverillustration zu gestalten. Doch zumindest bei den Vogue-Verantwortlichen dieser Zeit und bei ihren Illustratoren lässt sich der Mut erkennen, Neues zu wagen und zwar alle zwei Wochen, also eben das, was in diesem Jahr auf der Typo allüberall gefordert wurde. Welche Marke lässt es heute zu, dass ihr Schriftzug zweimal wöchentlich verändert wird? Aber wer Stil vorgibt, kann sich das erlauben und sollte es vielleicht auch, denn niemals sahen die Vogue-Cover schöner aus als zu dieser Zeit.
Anne Dreesbach
Brand Talks – handverlesen
Die Brand Talks mit Auftraggeber-Gestalter-Paaren waren letztes Jahr ein so großer Erfolg, dass sie 2018 erneut durchgeführt wurden. Ein Dutzend Paarungen präsentierten am zweiten Konferenztag im 30-Minuten-Takt ihr Markendesign. Den Brand-Talks-Freitag läutete Alex Mecklenburg mit ihrer Keynote „Mind the Hype“ ein. Die zwei wichtigsten Botschaften der Markenstrategin und Mitgründerin der Creative Business Consultancy Truth & Spectacle lauten: Lasst uns den Optimierungswahn beenden. Fragen wir (also auch die Kreativbranche) uns lieber, wie ein Umfeld aussehen sollte, in dem Kreativität gedeihen kann. Und hören wir auf, aus allem einen Hype zu machen, dessen Kern niemand versteht. Statt Götzenanbeter brauchen wir mündige Menschen, die, indem sie die Zusammenhänge begreifen, Handlungshoheit haben, jeder auf seine Weise.
Drei Brand Talks seien herausgegriffen, und zwar die Schrift-orientierten – allesamt Markenikonen. Da geht es um Geschichte und Geschichten, um Erinnerungen, Gefühle, Zukunftsvisionen. Die neue Nivea-Handschrift präsentierten Stephanie Ebigt (Design Manager Nivea/Beiersdorf) und Julia Sysmäläinen (Juliasys Studio, Berlin), die vielseitige Schriftspezialistin mit finnischen und russischen Wurzeln. Eine Herausforderung, immerhin gehört der geschriebene Schriftzug seit 1959 zum Erkennungszeichen der Marke. Warum überhaupt eine Erneuerung? Vor allem der globalen Anwendung wegen. Aber wie ist sie nun, die Niveafrau, und wie schreibt sie? Anhand von rund 150 Merkmalen wurde ein Eindrucksprotokoll erstellt. Demnach ist die Niveafrau unter anderem lebhaft, selbstbewusst, phantasievoll, großzügig (und überhaupt nicht kraftlos, zögerlich, schüchtern, dürr oder exaltiert …). Die daraus entstandene Handschrift Nivea Care Type ist feminin und persönlich und hat einen leichten deutschen „Akzent“, ersichtlich etwa beim r. Aber die Niveafrau spricht auch Türkisch, Russisch und Griechisch: Der Zeichensatz umfasst rund 4000 Glyphen für 100 Sprachen. Die neueste Fonttechnologie ermöglicht zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Buchstabenversionen.
„Keks ist Fortschritt“ dichtete Kurt Schwitters einst für Bahlsen. „Creating & Crafting GOOD since 1889“ heißt der aktuelle Markenclaim. Christian Bahlmann (Head of Corporate Communications, Bahlsen) und Heinrich Paravicini (Mutabor) beschrieben den Erneuerungsprozess und begannen mit der Firmengeschichte. Der Unternehmensgründer Hermann Bahlsen war selbst ein außergewöhnlich erfinderischer Geist. Er produzierte bereits 1905, noch vor Henry Ford, mittels Fließbändern und kreierte 1911 das Wort Keks (aus Cakes). Dabei war er nicht einmal vom Fach, war also kein gelernter Bäcker; er ging einfach mit offenen Augen durch die Welt. Nicht von ungefähr heißt es heute auch: „Wir sind findig im Finden.“ Das Corporate Design funktioniert in allen Medienkanälen, betont die Prägnanz der Marken, die in den globalen Märkten bestehen müssen. Die Historie hilft dabei. So hat René Bieder aus der Keksschrift von einst die Bahlsen-Grotesk entwickelt, die mit ihren kleinen Hörnchen, etwa am Versal-M, und mit anderen Details „Markenwärme“ ausstrahlt. Wiederbelebt wurde das Zeichen der Göttin TET mit dem altägyptischen Schlangensymbol (Bedeutung: immerwährend, also haltbar).
Geradezu revolutionär ist demgegenüber das neue Erscheinungsbild des London Symphony Orchestra, kurz LSO, dessen Musikdirektor seit 2017 Sir Simon Rattle ist. 1904 als erstes unabhängiges, selbst verwaltetes Orchester Englands gegründet, steht es für Pioniergeist und höchste musikalische Qualität. Edward Appleyard (Senior Marketing Manager Brand and Communications, LSO) und Stuart Radford (Executive Creatice Director, Superunion) zeichneten den steinigen Weg zur neuen visuellen Identität nach. Nach Irrwegen fand man einen neuen Ansatz – eine Idee, so genial wie naheliegend (eigentlich): Der Dirigent inspiriert sein Orchester, warum nicht auch die Formensprache der Marke? Warum also nicht seinen Taktstock als Form gebendes Element nutzen? „Always moving“ – Sir Simon Rattle spielte experimentierfreudig mit bei diesem Hightech-Projekt, das zusammen mit Vicon Systems und der University of Portsmouth School of Creative Technologies umgesetzt wurde. Er stieg in ein Motion Capture Suit und dirigierte in diesem Alienkostüm Elgar’s Enigma Variationen. Zwölf Kameras zeichneten seine Bewegungen mit 120 Frames pro Sekunde auf. Aus „motion“ machte der Digitalkünstler Tobias Gremmler dann „emotion“. Buchstaben, durch die der Taktstock peitscht, und farbmächtige, dynamisch-abstrakte animierte Bildwelten sind das Ergebnis. Ein starker, innovativer Auftritt, der die Faszination klassischer Musik kongenial visualisiert und auch Menschen fesseln soll und kann, die mit dieser Musik bislang gefremdelt haben. Die Berichterstatterin ist begeistert!
Mit Sprache gestalten – Sonja Knecht
„Abenteuer Text“? „Text als Wille und Vorstellung“ (frei nach Arthur Schopenhauer)? „Text als Ornament und Verbrechen“ (frei nach Adolf Loos)? Etwas reißerischer: „Text sells“? Oder nüchtern beschreibend: „Drei Thesen über Text“? Sonja Knecht entschied sich für „Text, Sex, Scheiße“ als Titel; warum, das wurde im Laufe des sprachlich – natürlich! – bemerkenswert pointierten, aber auch dram aturgisch zielsicher präsentierten, humorvollen Vortrags klar. Schon anhand des Einstiegs zum Thema Überschrift zeigte sie, wie man mit Wörtern – und Satzzeichen! – jonglieren und welche unterschiedlichen Wirkungen man so spielend erzielen kann.
„Wir können so fein differenzieren im Deutschen!“, freut sie sich, die nach dem Studium als Übersetzerin und Grafikerin tätig war, bevor sie den Beruf des Textens entdeckte und damit ihre Berufung. Als freie Texterin und Expertin für Unternehmenskommunikation beschäftigt Sonja Knecht sich unter anderem mit „Corporate Wording“ und „Brand Language“; sie lehrt zudem an der Universität der Künste Berlin (UdK) und an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Texten zu können (schriftlich wie mündlich), sei auch für Designer wichtig, schließlich müssen sie ihre Ideen und Arbeiten präsentieren und sich darüber austauschen können. Wie übt man das? Lesen hilft …
Was sensibel gesetzte Wörter auszulösen vermögen, zeigte Sonja Knecht am Beispiel Franz Kafkas, dem „Großmeister des Storytelling“ und einzigen Schriftsteller, dessen Name zum Adjektiv wurde (kafkaesk). Sie machte bewusst, wie reich und vielfältig unsere Sprache ist und dass Texten manchmal auch aus Weglassen besteht. Sie ärgert sich über schlechte Formulierungen, egal in welchem Zusammenhang, und freut sich über gelungene Wortschöpfungen (und HotDudesReading auf instagram). Ihre drei Thesen lauten:
1. Die besten Bilder entstehen im Kopf.
Durch Wörter.
2. Text ist Information.
Immer.
3. Sprache ist ein Gestaltungsmittel.
Überall.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Experimentierfreudig verspielt – dina Amin und Hansje van Halem
dina Amin aus Kairo mag das Versal-D nicht; es ist ihr zu dominant. Außerdem frisst es Kleinbuchstaben, was sie im Film belegte. Deshalb schreibt sie ihren Vornamen klein. Dies war der einzige Bezug zum Thema Schrift; ansonsten hatte ihr hinreißend-sympathischer Auftritt mit Typografie rein gar nichts zu tun, dafür umso mehr mit Phantasie. Und mit Mut (den eigenen Weg zu finden und ihn auch zu gehen). In Malaysia hat sie Produktdesign studiert, dies nach ihrer Rückkehr nach Kairo dann aber auf ganz ungewöhnliche Weise weitergeführt. Statt Produkte zu gestalten, die irgendwann ja doch weggeworfen werden, begann sie Sachen zu sammeln, die andere wegwarfen. Diese Dinge des alltäglichen Gebrauchs, ob Fön, Rasierer oder Mobiltelefon, zerlegt sie in ihre Bestandteile, starrt so lange auf diese Ansammlung, bis sie etwas entdeckt, worüber sie lachen muss. Dann baut sie aus den einzelnen Elementen etwas ganz Neues, etwa eine Kreatur, die fliegen möchte, aber nicht kann. Das Ganze dokumentiert sie in Stop-Motion-Technik bei Instagram (Tinker Friday) – für sie die optimale Plattform. So setzt dina Amin sich nicht nur mit der Konsumgesellschaft auseinander, sondern auch mit Vorurteilen und Rollenklischees. Ihr Plan für die Zukunft? Keinen Plan zu haben. Großer Beifall.
Hansje van Halem experimentiert ebenfalls gern. Von den Veranstaltern wurde sie in der Kategorie Typografie verortet, jedoch bot sie unter dem schönen Titel „Das magische Auge“ vor allem eins: Inspiration! Begeisterung für Technik und für Buchstaben. Sie ist fasziniert von Mustern und spielt damit. Lesbarkeit steht da nicht immer im Vordergrund. Die Codes schreibt sie nicht selbst, experimentiert aber begeistert mit den technischen Möglichkeiten. Selbst ausprobieren kann man das auf typotheque.com am Beispiel ihres Fonts namens Wind. Unter den gezeigten Arbeiten waren Buchcover, Briefmarken, das Schriftdesign für das Lowland Musikfestival, Vorsatzpapiere, Tapeten, Stoffe … (s. hansje.net)
Grenzen überschreiten, jeden Tag – Saar Friedman
„Open your heart, open your mind!“ Saar Friedman nahm die Besucher mit in seine Geburtsstadt Jerusalem. An den Ort der heiligen Stätten von Judentum, Christentum und Islam – alles nah beieinander, auf kleinstem Raum; eine Stadt, die historisch und modern zugleich ist, dreisprachig und dreischriftig (!); dabei voller Konflikte, immer im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Es ist kompliziert – oder doch eigentlich ganz einfach? Jeder, der hier lebt, überschreitet tagtäglich unsichtbare Grenzen; die Islamwissenschaftlerin etwa kauft beim Bäcker im jüdischen Viertel ein und geht im christlichen zur Post.
Saar Friedmans berufliche Laufbahn begann mit einem „Why not?“. So wurde er schon in jungen Jahren Manager eines der angesagtesten Clubs in Jerusalem, ja weltweit, und gründete im Jahr 2000 – why not? – in Tel Aviv eine Full-Service-Branding-Agentur; sie heißt OPEN … Mit dem Mekudeshet-Kulturfestival stellte er ein einzigartiges Projekt vor. Initiiert durch die in den USA lebende Philantropin Lynn Shusterman, die Menschen zusammenbringen und von Jerusalem ein neues Bild zeichnen möchte, findet es seit 2011 jährlich statt. OPEN übernahm die Gestaltung. Das Branding folgt drei Prinzipien: Es gibt kein einheitliches Corporate Design, stattdessen unterschiedliche bunte, urbane Stilmittel; das Ganze ist dynamisch und soll neugierig machen, anregen Fragen zu stellen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Als zentreal wurde der Begriff Bewegung erkannt, im physischen wie im mentalen Sinn. Es gilt, die eigene Komfortzone verlassen. Analoge und digitale Hilfsmittel wurden genutzt, beispielsweise Bewegungsprofile von zehn handverlesenen Personen erstellt, daraus Signaturen entwickelt, Leitfarben kamen hinzu (am Ende Schwarz und Weiß). Bis zum alle überzeugenden Endergebnis war es ein weiter Weg – entstanden ist ein außergewöhnlicher Auftritt für ein außergewöhnliches Kulturfestival. Dieses Jahr beginnt es am 8. August, Infos unter en.mekudeshet.com.
Hilfreiche Schubladisierung?
Über siebzig Vorträge und Workshops an drei Tagen, fünf Bühnen – der Versuch der Organisatoren, Typo-Neulingen mittels vier Kategorien Orientierung zu geben, ist ehrenwert, die Zuordnung schwierig, das Resultat dementsprechend schief. Nur acht Präsentationen wurden dem Thema Typografie zugeordnet; Gerd Fleischmanns Vortrag über die berühmten zehn Thesen von Kurt Schwitters – hier geht es eindeutig um Typografie – kam erstaunlicherweise mit 24 weiteren in die Kategorie Inspiration. 16 mal war Branding das Thema, 17 mal ging es ums Know-How, darin enthalten die zahlreichen, stets bestens besuchten Workshops. Die Zuordnung sollte noch gewissenhafter durchdacht werden und als Kennzeichnungsfarbe für die Inspiration sei (Sonnen-)Gelb empfohlen statt Orange, das kaum vom Rot für Typografie zu unterscheiden ist.
Fazit: Viele Vorträge boten ohnehin alles – neben Inspiration und Know-How auch typografische und Branding-Aspekte.
Silvia Werfel
Fotos:
Gerhard Kassner, Monotype
Norman Posselt, Monotype
Sebastian Weiß, Monotype
Frank Rausch
Rudolf Paulus Gorbach
Ulrike Rausch
Anne Dreesbach
Silvia Werfel
photo © by walking-chair.com
TET Bahlsen-Familie: Mutabor
Bahlsen-Grotesk: Mutabor / René Bieder
Hansje van Halem
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