Die zweite Typo St. Gallen
Hanna Ruegg beginnt den Tag mit einer Erzählung über die Kulturgeschichte der Farbe weiß.
Sie fragt, was an Wörtern mit der Farbe weiß zusammenhängt. Weiß ist verwandt mit Licht, dem Leuchten, oder dem Weizen und dem weißen Mehl. Anhand von Ingres’ »Raub der Europa« von 1825 versuchte sie Bedeutungen der Farbe Weiß zu erläutern: Der weiße Stier, das Unschuldige, der weiße Schwan. Zeus als Blitzeschleuderer, Weiß als Unschuld, Jungfräulichkeit, auch weiterführend, nicht böse denkend. Das lebensspendende Weiß, Sperma, die behütende Weiblichkeit.
Weiß als Farbe gibt es erst etwa so lange wie die Zahl Null. Jasper Johns’ Ziffer 0 tritt auf. Der Papst darf weiß gewandet sein – Weiß als Weisheit? Und da stutze ich dann, auch durch Rüggs sehr emotionale Sprache. Für wen spricht sie, für Kinder? Mir kommt es wie eine »Weißandacht« vor.
Malevitch wird mit der Wahrheit des Nichts zitiert. Die Gedanken Kandinskys zum Weiß, Weiß als Schweigen, oder wie klang die Erde zur Zeit der Eiszeiten? Weiße Flecken auf der Weltkarte. Das Weiß mit einer (Schein-) Bedeutsamkeit in der Werbung von Daimler-Benz oder das Weiss beim Putzen und Waschen.
Interessant wäre schon, was die vielen jungen kommenden Gestalter, die im Saal waren, damit anfangen können. Weißes Passpartout für den Tag, sagt hierzu der Moderator der Tagung, Clemens Schedler auf esoterische Weise.
Veronika Burian von »Typetogether, auch als Netzwerk« zeigt einige recht unbedeutende Filmchen ohne Infos. Raum und Stille könnten auch schwarz sein. Der Rhythmus, die Form und Gegenform bedeuten im Typedesign, dass der Buchstabe zwei Formen hat, das Schwarz und das Weiß. Beim Gestalten eines Buchstabens »gestaltet« Burian eher das Weiß. Die optische Wahrnehmung der Innenräume des Buchstabens ›o‹. Die Unregelmäßigkeiten in Pressendrucken werden geliebt. Aber warum eigentlich? Und je mehr Veronika Burian in die Details geht, umso interessanter werden ihre Ausführungen zu einem Mikro-Weißraum. Ein Vergleich unter dem Mikroskop, verschiedene Druckverfahren und unterschiedliche Papiersorten. Wenn die Regelmäßigkeit der Schrift zu linear wird, leidet in langen Texten die Lesbarkeit. Das wichtige Gleichgewicht des optischen Buchstabenausgleichs zeigt sie verständlich auf, spricht aber bisweilen nebulös über Lesbarkeitsprobleme.
Dann noch ein interessanter Hinweis aus dem Rezeptkasten: Die Zeichenabstände einstellen mit »n« und »o« beginnen. Je fetter die Schrift, desto weniger Zwischenraum, aber nicht bei mageren Schriften. Persönlich hat Burian eine Abneigung gegen das Kerning und lässt es von einem Spezialisten durchführen.
Joost Hochuli erläuterte eine Auswahl handgeschriebener Briefe. Mit der klassizistischen Schrift nahm gleichzeitig durch die Verwendung schnelleren Drucks die Qualität der Schriftwiedergabe ab. William Morris hatte dann für eine Wiederbesinnung auf alte Qualitäten gesorgt – in einer neuen Interpretation. Edward Johnstones frühe schöne Arbeiten sind zu sehen, die auf dem Schreiben und der Kalligrafie basieren. Alfred Fairbanks hatte eine Handschriftreform entwickelt, die in England weit verbreitet ist. Diese Meister schrieben mit Breitfedern in 45-Grad-Haltung. Dazu deutliche Ober- und Unterlängen. Und das gilt auch für Paul Standard, Max Caflisch oder Gerit Nordzey.
Kurt Höretzeder berichtete darüber, wie die Typografie-Initiative mit dem Namen »Weißraum« mit Vorträgen und Seminaren Ende der 1980er Jahre in Innsbruck begann. Es könnte fast so gesehen werden, dass der Innsbrucker Weißraum als Thema für die St. Gallener Tagung diente. Was bedruckte und unbedruckte Flächen bedeuten könnten, kann gerätselt werden (Typografen wissen es jedoch). Dazu meint er, dass auch Tirol im Hinblick auf Typografie ein »Weißraum« sei, und zwar jetzt, 115 Jahre nach der TGM, werde alles besser.
Prominente Redner waren bereits in Innsbruck (Bohatsch, Ruedi Baur, Sagmeister, Rathgeb, Rolf Müller, Weidemann). Er spricht auch das Problem der Region an, denn wer in der Ferne arbeitet, kommt oft nicht mehr zurück. Es geht um Austausch, Vernetzung, ein offenes Konzept gegen den Überdruss auch in der Kommunikationsbranche. Reine ästhetische Diskussionen sind nicht ausreichend. Er fragt, ob die heutigen grafischen Formen eine positive Wirkung auf die Menschen haben. Er nennt Glück und Architektur im Sinne von Alain du Botton, Otl Aicher als wichtigen Philosoph für unsere Branche sowie das, was Kultur und Gesellschaft heutzutage zusammenhält.
Der Werkraum Vorarlberg wird sehr empfohlen, und kulturelle Initiativen kommen oft aus der Provinz. Am Ende zitiert Höretzeder Peter Handke: »Das Handwerk dient nur dazu, etwas nicht zu tun«.
Susanne Zippels äußerst interessante Darstellungen begannen zunächst fast kurios in betonter Schüchternheit. Doch davon konnte alsbald vor allem inhaltlich gesehen keine Rede mehr sein.
Sie spricht über fernöstliche Weisheiten und dass wir unserer eigenen Denkweise oft nicht bewusst sind. Zitat: »Wir können das Gesicht des Berges Lu nicht sehen, solange wir uns in ihm aufhalten.« Taoismus als der Weg auf der Suche nach der höchsten Möglichkeit.
Gelassenheit und Geduld sind erforderlich, wenn man sich mit der chinesischen Schrift beschäftigt. Die chinesische Schrift spricht vom Lesen in »Silhouetten« und hat eine enorme Komplexität, mit bis zu 36 Strichen auf einem Schriftfeld. Die enorme Vielfalt erfordert großes Engagement beim Lesen und Schreiben.
Die Erweiterungen und Möglichkeiten des chinesischen Denkens werden zum Ausdruck gebracht, während die Schrift Japans erst im 6. Jahrhundert entstand. Im Westen zeichnet sich die Schrift durch rationale Zahlensysteme aus. Die Erweiterungen und Möglichkeiten des chinesischen Denkens werden zum Ausdruck gebracht, während die Schrift Japans erst im 6. Jahrhundert entstand. Aber anderes Sprechen in China als im Westen: Es muss nicht erst zu Ende gedacht werden, bevor man spricht. Aber alles Grund genug, um sich mit Zipfels Buch »Fachchinesisch Typografie« zu befassen.
Die Fortsetzung der klassischen Schweizer Typografie in New York geschieht durch Willi Kunz. In seinem Thema »Mikro und Makro« sieht er Weißraum wie Leerraum gleich, bemerkt kritisch den geistigen Leerraum im Kopf junger Menschen, da er bei der Erwähnung wichtiger Namen oft leere Blicke erntet. Viele junge und zukünftige Gestalter seien nicht an Theorien interessiert. Eher würden sie Arbeiten anderer aus Büchern kopieren. Wie wichtig Typografie sein könnte, vergleicht er am Beispiel der Architektur.
Er nennt seine eigenen Quellen: Davidshofer-Zerbe, Ruder, Hofmann, Müller-Brockmann oder Gerstner. Eine typografische Arbeit ist sowohl optisch als auch geistig anspruchsvoll. Und er behauptet auch, dass jede gestalterische Aufgabe mithilfe von typografischen Mitteln gelöst werden kann.
Kunz zeigte Aufgabenlösungen seiner Studenten, bei denen Zeichen aus bisherigen Zeichen neu zusammengesetzt wurden. Seine eigenen Arbeiten bestechen durch sehr schöne Basiskonzepte. Allerdings gibt es eine Behauptung von Kunz, die einen Widerspruch herausfordert: Typografie wird durch die Anordnung der Wörter kreiert, nicht durch die Wahl der Schrift. Natürlich trifft das zu, aber es setzt gleichzeitig die Schriftwahl auf Null, was möglicherweise ein Schwachpunkt der klassischen Schweizer Typografie ist oder war.
Am ersten Tag sprachen Matthieu Lommen, Jonas Vögeli und Erik Spiekermann. Ich war leider noch nicht dabei, weshalb ich darüber nicht berichten kann. Nur so viel, die Stimmung der Teilnehmer war sehr gut, sozusagen »angemacht«, und das hielt sich auch noch die restliche Zeit.
St. Gallen bedeutet aber auch Tradition der Bücher. So gab es am dritten Tag reichlich Gelegenheit, in der Stiftsbibliothek in den übergroßen Filzpantoffeln herumzuschlurfen, wunderbare Handschriften und frühe Drucke zu sehen. Kompetent und durchaus locker erläutert von Silvio Frigg und Roland Stieger. In der Gruppe, an der ich teilnahm, entstand unter anderem eine interessante Diskussion darüber, woher die stringenten Randproportionen bei Handschriften und ebenso in Inkunabeln wohl kommen. Das jedoch leider nur im Ansatz.
Beim anschließenden Typowalk durch das ruhige Sonntagmittags-St.-Gallen hatte ich das Vergnügen, von Florian Hardwig geführt zu werden. Diese »Begehungen« erfreuen sich großer Beliebtheit und sind auch sehr amüsant, weil Gutes neben Miserablem vort Ort diskutiert werden kann.
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