Design für alle – ein neues Standardwerk?
Ich gebe zu: Diese Buchkritik ist vielleicht nicht ganz unvoreingenommen. Viele der Autor:innen und natürlich die Herausgeber:innen des kürzlich erschienenen Buches »Gutes Design für Leichte Sprache« sind der tgm eng verbunden. Einige haben bereits in unseren Seminaren oder der kürzlich abgeschlossenen Fachvortragsreihe ihr Wissen geteilt. Umso mehr freuen wir uns, dass nun auch das lange angekündigte Fachbuch endlich erschienen ist.
Warum Empfehlungen für Leichte Sprache?
Im Jahr 2014 empfahl der erste Ratgeber der Bundesregierung zur Leichten Sprache: »Schnörkellose Schrift, zum Beispiel Arial oder Verdana, Schrift-Größe 14 oder größer.« Dies geht wahrscheinlich auf den Anfang der 90er Jahre zurück, als Arial neben Times New Roman und Courier zu den Standard-Fonts von Windows 3.1 zählte – und die Arial tatsächlich die leserlichste Wahl unter diesen Optionen war.
Seitdem haben sich jedoch Forschung und Praxis erheblich weiterentwickelt. Mit der DIN SPEC 33429 und dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) rückt das Thema Barrierefreiheit weiter in den Fokus. Die DIN-Norm berücksichtigt nicht nur sprachliche, sondern auch gestalterische Aspekte der Barrierefreiheit. Trotzdem hält sich das »Arial-Dogma« hartnäckig.
Das Buch »Gutes Design für Leichte Sprache« von Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach räumt mit Mythen wie diesem auf und zeigt, wie barrierefreie Gestaltung heute gelingt – faktenbasiert und praxisnah.
Struktur und Inhalte
Das Buch gliedert sich in drei Bereiche – Theorie, Praxis und Realisierung. Schon hier wird klar, dass sowohl für Wissenschaftler:innen und Studierende als auch Praktiker:innen angesprochen werden sollen.
1. Theorie: Die Grundlagen guter Gestaltung
Im ersten Teil des Buches legen die Autor:innen die theoretischen Grundlagen.
Jürgen Spitzmüller beschreibt in seinem Beitrag, wie Textgestaltung den Sinn eines Textes prägt und warum klare visuelle Strukturen essenziell sind. Martin Tiefenthaler ergänzt diese Perspektive mit der spannenden These, dass unser Körper bereits unbewusst entscheidet, ob ein Text einladend wirkt – lange bevor der Geist den Inhalt erfasst.
Ann Bessemans erklärt, wie mikro- und makrotypografische Entscheidungen die Lesbarkeit und Verständlichkeit beeinflussen, und liefert wissenschaftlich fundierte Leitlinien. Bettina M. Bock hinterfragt schließlich, was einen »guten« Text in Leichter Sprache ausmacht, und zeigt, dass maximale Einfachheit nicht immer die beste Lösung ist.
Verena Reinhard beleuchtet die Unterschiede zwischen Leichter und Einfacher Sprache und zeigt, wie die Leichte Sprache in den 1970er-Jahren aus den USA ihren Weg nach Deutschland fand. Den Abschluss bildet Rudolf Paulus Gorbach, der den Entstehungsprozess der DIN SPEC 33429 nachzeichnet und ihre Bedeutung als verbindlichen Standard für Leichte Sprache erläutert.
2. Praxis: Typografie, Schriftwahl und Layout
Der zweite Teil des Buches widmet sich der praktischen Umsetzung.
Gorbach zeigt, wie ein geschickt gestalteter Satzspiegel, klare Raster und passende Seitenformate den Lesefluss erheblich erleichtern können. Antonia M. Cornelius und Albert-Jan Pool liefern fundierte Erkenntnisse zur Schriftwahl für Leichte Sprache: In bestimmten Kontexten können Schriften mit Serifen besser funktionieren als serifenlose Schriften.
Ein Vertrag sieht anders aus als ein Flyer: Sabina Sieghart erläutert die Bedeutung der gattungsspezifischen Gestaltung. Diese visuellen Hinweise bieten Orientierung – besonders auch für Leser:innen der Leichten Sprache. Birgit Walter und Juliane Wenzl zeigen schließlich, wie Illustrationen und Abbildungen Inhalte greifbarer und zugänglicher machen können.
3. Realisierung: Barrierefreie Kommunikation umsetzen
Im dritten Teil stehen die technischen Aspekte im Fokus.
Wolf Kamm und Hans Neumair erläutern detailliert, wie barrierefreie PDFs erstellt werden können. Dabei zeigen sie auf, wie eine strukturierte Arbeitsweise bereits im Workflow helfen kann, technische Barrierefreiheit sicherzustellen.
Spannend ist auch das Kapitel von Björn Rohles und Sabina Sieghart, das sich den Herausforderungen und Potenzialen des digitalen Raums widmet. Menschzentriertes Design kann gerade in digitalen Produkten Barrieren abbauen, denn sie sind häufig die erste Schnittstelle zwischen Menschen und Informationen.
Den Abschluss bildet ein praxisnahes Fallbeispiel von Anna Kornbrodt und Sabina Sieghart, das die barrierefreie Erweiterung eines Corporate Designs beleuchtet. Das Beispiel der Elbkinder eGmbH zeigt, wie Leichte Sprache nicht nur gestalterisch, sondern auch organisatorisch in die Kommunikationsstrategie integriert werden kann. Die Umsetzung erfordert dabei nicht nur technisches Know-how, Sie ist auch eine kulturelle Herausforderung, die Geduld und die Einbindung aller Beteiligten erfordert.
Mehrwert und Stärken
Bereits beim ersten Durchblättern von »Gutes Design für Leichte Sprache« fällt die klare Struktur auf. Das Buch vereint Forschungsgrundlagen mit konkreten Lösungswegen in gut lesbaren und praxisnah gegliederten Kapiteln. Als Teil der UTB-Reihe, einer wissenschaftlichen Taschenbuchreihe für Studierende und Lehrende, zeigt es seinen akademischen Anspruch durch die durchdachte Verbindung von Theorie und Praxis sowie die umfangreichen Literaturhinweise. Diese machen es nicht nur ideal für den Einsatz in Lehrveranstaltungen, sondern unterstützen zugleich die Vertiefung der behandelten Themen.
Besonders hervorzuheben ist die Vielfalt der Perspektiven: 14 Autor:innen aus den Bereichen Typografie, Linguistik und Designforschung garantieren eine umfassende Betrachtung. Beiträge von renommierten Fachleuten wie Ann Bessemans, Sabina Sieghart und Jürgen Spitzmüller treffen auf praxisorientierte Ansätze von Antonia M. Cornelius und Albert-Jan Pool. Diese gelungene Allianz aus Theorie und Praxis bereichert das Werk enorm.
Auch die Gestaltung des Buches trägt zum positiven Gesamteindruck bei. Die klare Typografie – die serifenbetonte »Portada Text« für den Fließtext und die serifenlose »Ebony« für Überschriften und Marginalien – unterstützt die Lesbarkeit und passen zum Thema. Das Großformat von 17 cm × 24 cm ist handlich und bietet dennoch ausreichend Platz für Abbildungen und großzügigen Weißraum. Die stabile Klebebindung verspricht eine lange Haltbarkeit – ein wichtiges Merkmal für ein Arbeitsbuch, das hoffentlich häufig genutzt wird.
Die gestalterische Zurückhaltung des Buches ist funktional und auf Lesbarkeit ausgerichtet, auch wenn einzelne Farbkontraste stellenweise etwas kräftiger ausfallen könnten. Das Cover, im typischen Design anderer utb-Fachbücher, ist durch seine rote Farbgebung prägnant und erfüllt seinen Zweck. Das Layout ist angemessen und unterstützt durch ihre Schlichtheit das zentrale Anliegen: die Vermittlung von Inhalten in einer klaren und lesbaren Form.
Mit diesem Buch zeigen Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach, dass Leichte Sprache keine bloße sprachliche Vereinfachung ist. Vielmehr handelt es sich um eine Disziplin, die Präzision, Empathie und gestalterisches Können erfordert. Diesen Anspruch erfüllt auch dieses Buch: Einen inspirierender Werkzeugkasten für alle, die barrierefreie Kommunikation durchdacht und fundiert gestalten möchten.
Kritikpunkte
Angesichts der genannten Stärken fällt es schwer, bei diesem Buch Verbesserungspotenzial zu finden. Inhaltlich überzeugt es mit fundierten Grundlagen, einer klaren Struktur und der gelungenen Verbindung von Theorie und Praxis.
Dennoch hätte ein stärkerer Fokus auf die Unterschiede zwischen digitalem und analogem Design die Relevanz für aktuelle Anwendungsfelder eventuell noch erhöhen können. Auch kompakte Checklisten oder weitere Best-Practice-Übersichten, wären evtl. hilfreich gewesen. Positiv zu bewerten ist jedoch, dass die vielen weiterführenden Links und Quellen, die teils über QR-Codes zugänglich sind, eine vertiefte Auseinandersetzung ermöglichen und diese digitalen Hilfsmittel die Themen sinnvoll ergänzen.
Die Beteiligung vieler verschiedener Autor:innen zeigt sich deutlich: Sprachlich und strukturell unterscheiden sich die einzelnen Beiträge merklich. Während die unterschiedlichen Sichtweisen und Ansätze die Vielfalt des Themas bereichern, wirken die Übergänge zwischen den Kapiteln teils uneinheitlich. Die nahtlose Wahrnehmung der einzelnen Beiträge als kohärentes Gesamtwerk wird dadurch erschwert.
Fazit
Sabina Sieghart und Rudolf Paulus Gorbach, beide renommierte Mitglieder der Typographischen Gesellschaft München, ist mit ihrem Werk »Gutes Design für Leichte Sprache« ein wegweisender Beitrag zum modernen Kommunikationsdesign und zur barrierefreien Gestaltung gelungen. Es kann zurecht als Standardwerk betrachtet werden und sollte in keiner Bibliothek fehlen.
Die Autor:innen zeigen überzeugend: Leichte Sprache ist nicht nur für Menschen mit Lernschwierigkeiten wichtig. Als universelles Prinzip verbessert es die Kommunikation für alle. Typografie und Design werden hier nicht auf ästhetische Aspekte reduziert, sondern als funktionale, menschenzentrierte Werkzeuge begriffen, die universellen Zugang zu Informationen schaffen.
Einmal mehr zeigt sich: Gute Typografie und gutes Design sind weit mehr als gestalterische Disziplinen. Sie erfordern Haltung und Verantwortung, leisten einen entscheidenden Beitrag zum Abbau von Barrieren und fördern Inklusion.
Sabina Sieghart (Hrsg.) und Rudolf Paulus Gorbach (Hrsg.)
Gutes Design für Leichte Sprache.
Theorie und Praxis zur DIN SPEC 33429
1. Auflage, 272 Seiten, Format: 17 × 24 cm
Verlag Julius Klinkhardt
27,90 EUR (für die Print-Ausgabe)
ISBN 978–3–8252–6307–2
eISBN 978–3–8385–6307–7
Prüfexemplare für Hochschullehrende verfügbar:
www.utb.de/doi/book/10.36198/9783838563077
Weitere Blogbeiträge, die Sie interessieren könnten
Typografie und Bild barrierefrei
Jeder Text, der zum Lesen veröffentlicht wird, muss typografisch bearbeitet sein. Das gilt auch dort, wo Einfache oder sogar Leichte Sprache eingesetzt wird. Für Typografen und Gestalter keine ganz einfache, aber sehr wohl wichtige Aufgabe. Im Hintergrund steht die Forschung, die ja, was den Einsatz von barrierefreier Typografie und Bildern angeht, noch am Anfang steht.
Neue Befunde aus der Hirnforschung und Theorien zur Funktion des Lesen
Lesen ist eine komplexe kognitive Leistung, bei der unser Auge als unvollkommener Sensor fungiert, der nur einen kleinen Teil der visuellen Informationen scharf erfasst. Wie unser Gehirn trotz dieser Einschränkung die Welt der Buchstaben und Wörter entschlüsselt, zeigen neue Erkenntnisse der Hirnforschung und Theorien zur Funktionsweise des Lesens.
Typografie mit Verantwortung
»Kein Lehrbuch und kein Handbuch ersetzt die Notwendigkeit selbst zu denken.«
Dieses Zitat von Andreas Uebele findet man in diesem Buch, gesetzt aus sehr großem Schriftgrad und noch gelb markiert. Zu Recht. Oft wäre es schön, wenn Typografie und Gestaltung funktionierten. Manchmal ist das lebenswichtig, beispielsweise in Krankenhäusern. Signaletik, also wegweisende visuelle Systeme, in Gesundheitsbauten müssen deshalb gleichermaßen exakt funktionieren für Besucher, Patienten und Mitarbeiter.