Open-Air-Galerie Donnersberger Brücke
Es war heiß damals, 2012, gefühlte 40 Grad. Bertram Kaiser (alias Neso) stand mit Maske auf der Leiter und sprühte an einem Wochenende seine Werke auf einen Pfeiler. Heute begleitet er uns und erklärt sachkundig, wer die Künstler sind, die hier ihre Arbeiten angebracht haben. Obwohl die Szene davon lebt, dass ihre Werke vergänglich sind und sogar der Zerstörung durch das teilweise Übersprühen, in der Fachsprache »crossing« genannt, ausgesetzt sind, finden wir hier viele Werke aus vergangenen Zeiten. In den letzten Jahren wurden auch einige zerstörte Arbeiten durch neue ersetzt. Das ist durch das Datum als Signatur gut erkennbar. Initiator des Gesamtprojekts Open-Air-Galerie war das Münchner Künstlerkollektiv »Writers Corner München«, das zusammen mit dem Baureferat diese legale Präsentationsmöglichkeit für Graffitis geschaffen und im Jahr 2013 eröffnet hat.
An der ersten Wand erfahren wir, dass die Werke nicht zwangsläufig aus »einer Sprühdose« entstehen, sondern engagierte Leute finden sich kollegial zusammen und bringen ihre jeweiligen Interessen, Fähigkeiten und Stile ein. So mischt sich Blubberschrift mit einer comicartigen Figur, die bekifft im Grünen raucht. Gleich daneben findet sich eine Heuschrecke mit Kettensäge, alles in knalligem Urwaldgrün. Meine Neugier liegt bei Kürls. Seine Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Typo und Figuren aus Spiralen bestehen, die Gesichter haben spiralförmige Augen. Er hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, und am Ende der Brücke finden wir ein Werk von ihm aus dem Jahr 2020. Die Schnörkel sind verschwunden, stattdessen steht das Verschmelzen von Farbe und geschwungener Typo im Vordergrund. Es entsteht ein sehr eigenes Bild, die Entzifferung des Textes wird gleichzeitig schwierig.
Die Gruppe schlendert von Werk zu Werk, perfekt live über Kopfhörer mit Informationen von Bertram Kaiser versorgt: Graphism, Der blaue Vogel, I Are Ugly, Lando, Buntlack, Nuke, SatOne, Beasty Style – die Graffiti-Künstler unterscheiden sich stark im Umgang mit der Typo. Faszinierend sind die dünnen Linien, die präzise wie mit einem Lineal gezogen, gesprüht wurden. Gibt es dafür eine Vorlage oder werden Hilfsmittel eingesetzt? Wir erfahren, es gibt Bilder im Kopf, vielleicht Vorstellungen oder Vorlagen. Doch das wirklich Spannende ist, unmittelbar mit den örtlichen Gegebenheiten umzugehen und so das Werk entstehen zu lassen. Dabei kann es schon einmal nötig sein, ein Abflussrohr oder Löcher in der Wand in die Gestaltung mit einzubeziehen.
Besonders deutlich wird dies, als Neso (Bertram Kaiser) uns seine Calligraffiti erläutert. Es ist eine Mischung aus klassischer Kalligrafie und Graffiti. Eindrucksvoll, wie die geschwungenen Linien wirken, als wären sie mit einer Feder gezeichnet. Die Umrandung der Buchstaben mit 3D-Effekt und die Schnörkel im Hintergrund zusammen mit den Blitzern geben dem Ganzen einen geschlossenen Charakter. Zu Beginn hatte Neso nur eine ungefähre Vorstellung im Kopf, wie an der Wand später ein geschlossenes Kunstwerk entstehen wird. Dabei ist es grundsätzlich nicht zwingend notwendig, dass ein lesbarer Text entsteht, wie wir auf der Rückseite des Pfeilers sehen können.
Bei den weiteren Arbeiten in Richtung Arnulfstraße wird man von vielen parkenden Autos bedrängt. Es wird schwieriger, die mehrere Meter hohen Arbeiten in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Hier beeindruckt das Werk von Won ABC, der sich besonders dem figurativen Graffiti widmet und Tanja im fotorealistischen Stil verewigt hat.
Die anspruchsvolle Bezeichnung »Galerie« für diesen unwirklichen Ort trifft durchaus zu. Hier erleben wir die einzigartige Dokumentation einer großen globalen Kunstbewegung im öffentlichen Raum, mitten in München. In Zukunft werde ich weiterhin mit offenen Augen durch die Stadt gehen, um Veränderungen wahrzunehmen und neue Werke an den Wänden zu entdecken.
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