artDate: Die Kunstsammlung des Europäischen Patentamts

Direkt an der Isar, vis-à-vis vom Deutschen Museum, ist der Prachtbau des Europäischen Patentamts gelegen. Das imposante Gebäude mit der bunten Fahnensammlung vor dem Eingang kennt vermutlich jeder Münchner. Weniger bekannt dürfte sein, dass direkt mit der Fertigstellung des zehngeschossigen Stahlskelettbaus durch das Architektenbüro Gerkan, Marg und Partner Ende der 1970er-Jahre auch die Sammlungstätigkeit begonnen wurde. Von Anfang an war diese Kunstsammlung international ausgerichtet und enthält heute weit über 1.000 Werke: Gemälde, Fotografien, Skulpturen, Installationen, ortsbezogene Auftragsarbeiten (Kunst am Bau). Der unermüdliche Drang zur Innovation spiegelt sich nicht nur in den Patenten wider, sondern auch im permanenten Erwerb neuer Werke u. a. von jungen Nachwuchskünstlern, die sich mit aktuellen Themen auseinandersetzen, das reicht von künstlicher Intelligenz über Nachhaltigkeit bis hin zur datengesteuerten Wirtschaft.
2023 wurde anlässlich des 50. Jahrestags des in München unterzeichneten Europäischen Patentübereinkommens ein neues grosses Areal im Souterrain des Hauptgebäudes geschaffen: Auf über 3.000 qm ist so der neue Kulturraum A&T 5–10 entstanden, eine Mischung aus Ausstellungsräumen, Schaulager sowie dem Bereich The European Patent Journey, der anschaulich die Geschichte und Architektur des Europäischen Patentamts von 1969 bis heute erzählt. Abgerundet wird der Kulturraum durch die von Esther Stocker eigens gestaltete Cosmic Bar. Der Name »A&T 5–10« steht übrigens für Arts & Technology und der 5.10.2023 war der bereits erwähnte 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Europäischen Patentübereinkommens.

Die Neugestaltung des Untergeschosses zum Kulturraum A&T 5–10 greift die originale DNA des papierenen Patentaktenarchivs auf: Auf fast 1.000 qm erstreckt sich heute eine Ausstellungsfläche, die ursprünglich als Registratur für Patentakten genutzt wurde. Durch die Transformation der Digitalisierung des Patenterteilungsverfahrens ist der ursprüngliche Zweck verloren gegangen. Wir lernen, dass ab- bzw. ausgelaufene Patente als »dead« bezeichnet werden. Hier im Kulturraum entfalten sie noch mal eine beeindruckend farbige Lebendigkeit und in der 3 × 4k-Projektion auf elf Metern Wandbreite »Pulse of the EPO« vom Berliner Künstlerduo Quadrature sehen wir ihre Digitalisierung. Die weltweite Patentstatistik-Datenbank PATSTAT dient für diese Projektion und in freier Interpretation wird der enorme Datensatz ausgelesen. Patente sind keine Innovationen, aber viele bahnbrechenden Innovationen sind patentiert: MP3, die Lithium-Ionen-Batterie, CRISPR-Cas9, der Airbag, die LED-Technologie – alles hier beim EPA patentiert, alles sehr kreativ und sehr in Ordnung.

Bei Sicht auf die überall strukturiert aufgehängten, präsentierten Patentakten wird mir wieder einmal klar, dass Kreativität viel mit Ordnung zu tun haben kann. Man muss nicht gleich so ein verbeamtetes Verständnis von Kreativität haben wie der Illustrator Christoph Niemann, der dafür bekannt ist, dass er sehr ordentlich seine Zeit von morgens bis abends am Schreibtisch absitzt und zugegeben großartige Werke schafft. Aber zu welchem Preis? Empfehlenswert in diesem Zusammenhang die »Abstract« auf Netflix: Folge 1 zeigt hautnah, wie Niemann in Berlin arbeitet und gestaltet. Das EPA macht sichtbar, wie sich Kreativität in der Ordnung versteckt und durch den Kulturraum wird der Kunst Raum gegeben, wird sie sichtbar. Patente sind nicht nur dead, sondern ein Spiegel der Kreativität von Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Lebendiger gehts nicht.

Bunter schon: In dem früher als Druckerei für Behördendokumente genutzten Werkstattraum leuchten uns 72 Farbmarken an, denn auch Farben für die werbliche Nutzung werden geschützt und wir erkennen einige sofort: Milka-Lila, Yello Strom, O2-Farbverlauf oder die Kultfarbe Tiffany Blue mit der Pantone-Nr. 1837, gleichzeitig auch das Jahr, in dem das Familienunternehmen in New York gegründet wurde. Farben schützen zu lassen, ist erst seit 1995 möglich. Der Künstler Rozbeh Asmani (*1983 in Shiraz, IR) hat diese Farbwand gestaltet und führt uns eindrücklich vor Augen, wie der Kapitalismus auch Farben okkupiert und die meisten Aspekte unseres täglichen Lebens durchdrungen hat.

Zwischendurch gibt es Zeit für Gespräche: Mich interessieren die Mitglieder und warum sie in der tgm sind. »Weil es bunter und vielfältiger ist! Hier begegne ich auch Produktdesignern und Architekten – das macht für mich einen Unterschied zum Beispiel zur AGD« heißt es. Oder auch: »Eure Kurse und Workshops, zum Beispiel zur KI, haben mir sehr geholfen, um erste Schritte hinein in das Thema zu finden. Dabei ist von Vorteil, dass ihr das Ganze auch online anbietet, das macht es wesentlich leichter, um auch unter der Woche teilnehmen zu können.«

Am Ende des inspirierenden Rundgangs sind wir noch in die hauseigene »Cosmic Bar« eingeladen, die von der italienischen Künstlerin Esther Stocker gestaltet wurde. Knautschige, an Wolken erinnernde Formen als Möbel oder Beleuchtungsquellen erzeugen einen klaren Gegensatz zu den linearen Schwarz-weiß-Mustern ihrer Oberflächen und zu den geometrischen Linien dieser Bar. Schnell finden wir bei einem Glas Wein und wirklich sehr, sehr leckerem Fingerfood zu vielen neuen Gedanken, überraschenden Gesprächsthemen und tauschen unsere Freude über die Fülle an kreativen Eindrücken aus.
Was für ein wunderbarer Abend: Sympathisches Miteinander, geteiltes Staunen, mehr Wissen, mehr Sehen, mehr Verstehen. Ein Abend, der unsere Gesellschaft ein klitzekleines Bisschen besser gemacht hat, eben: Typografie in guter Gesellschaft.
Weitere Infos zur EPA-Kunstsammlung: https://www.epo.org/de/about-us/art
Die artDates der tgm sind ein Format, bei dem ungewöhnliche Einsichten ermöglicht werden: Besuche und Führungen durch besondere Sammlungen, Museen, Ateliers, Corporate Collections, einschließlich inspirierenden Begegnungen mit Künstlerlnnen, Fotografen, Architekten, Kuratoren. Gerne auch verbunden mit der Möglichkeit, sich handwerklich auszuprobieren und schon mal verbunden mit einem Tagesausflug. Die artDates der tgm sind ein offenes Format: Jede, die will, kann einen Vorschlag machen. Seit vielen Jahren umsichtig von Helga Schörnig kuratiert, kultiviert begleitet von Andreas S. Müller und neugierig ausgegraben von Thomas Schlierbach.
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