typographische
zitate
Gute Typo­grafie ist wesentlich ein Ergebnis wohl­über­legter Anordnung.
Jan Tschichold

Typographische
Gesellschaft
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Event

UEBER || QUELLEN

Ine Ilg
9. März 2013
Der Typotag 2013 konzen­trierte sich auf die facet­ten­reiche Welt der Info­grafik und Daten­vi­su­a­li­sierung. Die Vorträge beleuchteten, wie Experen aus verschiedenen Diszi­plinen komplexe Infor­ma­tionen erfassen, visuell darstellen und dabei sowohl die Ästhetik als auch die Wahr­haf­tigkeit und Relevanz dieser Darstel­lungen hinter­fragen.

Prof. Michael Stoll: »Wer nichts weiß, muss alles glauben«
Der uner­müdliche Sammler und Forscher sieht die Geschichte der Info­grafik als Rüstzeug für die Visu­a­li­sierung komplexer Zusam­menhänge und erläutert diese anhand von geschicht­lichen Fakten und unzähligen Ausstel­lungs­tafeln, die die Wände der über­vollen Konfe­renzhalle säumen und die Zuhörer umrahmen. Stoll, Professor für Medi­en­theorie und Info­grafik an der Hoch­schule Augsburg und inter­na­tional gefragter und enga­gierter Experte, betrachtet Info­grafiken als Werkzeuge des Denkens, mit Steig­bü­gel­funktion für das Verständnis innerer Zusam­menhänge komplexer Sach­verhalte.

Jan Schwochow: »Wahr­heits­findung im Datend­schungel«
Der Info­grafiker, Jour­nalist und leiden­schaftliche Rechercheur zeigt, wie zeit­auf­wändig das Visual Story­telling ist und welch viel­fältige Kompe­tenzen es erfordert: Recher­chieren, Orga­ni­sieren, Gestalten, Texten, Program­mieren und, und, und. Diesen Erfah­rungs­schatz hat sich Schwochow, der heute die vielfach ausge­zeichnete Berliner Agentur Golden Section Graphics leitet, in den letzten 20 Jahren in unzähligen Projekten erworben, darunter Infor­ma­ti­ons­design für Magazine wie Stern und Focus und für Verlage wie die Milch­straße. Eine intensive thema­tische Ausein­an­der­setzung und eine gründliche Recherche hält er dabei für essentiell. Um möglichst früh involviert sein, geht er deshalb bspw. schon mal mit auf eine Ausgrabung und entdeckt selbst Fund­stücke. Mit dieser Erfahrung lassen sich Daten später absolut anschaulich, begreifbar und glaub­würdig darstellen. Und mit solcher Art erlangtem, grund­le­gendem Wissen lässt sich das Ergebnis, die Info­grafik, bestens veri­fi­zieren. Getreu seiner Über­zeugung: »Das eigene Gehirn ist das beste Tool.«

Stefan Fichtel: »Nichts ist wie es scheint«
Mit beinahe krimi­no­lo­gischer Präzision entlarvt der Info­grafik-Experte Stefan Fichtel beispielhaft einige verfälschte Darstel­lungen und weist damit auf den poli­tischen, meinungs­bil­denden Aspekt von Infor­ma­ti­ons­design hin. Verant­wor­tungs­be­wusstsein bei der Darstellung von Werten und Präzision bei der Über­setzung von Daten in Grafiken hält er deshalb für absolut uner­lässlich. Fichtel ist Geschäfts­führer und Creative Director der Berliner Agentur ixtract und arbeitet mir seinem Team für Kunden wie National Geographic, Siemens, das Handelsblatt oder den WWF. Für letztere hat er auf der Grundlage von 4.000.000 Werten eine eindrucksvolle Visu­a­li­sierung zur Über­fi­schung der Weltmeere geschaffen. Die Heraus­for­derung bei dieser animierten Info­grafik sieht er darin, »die Augen zu öffnen und ein vermeint­liches Low-Interest-Thema auf den ersten Blick in seiner ganzen Tragweite erfahrbar zu machen.« Damit es scheint, wie es ist.

Carlo Zapponi: »It’s a lot of fun«
Carlo Zapponi liebt es, die Welt zu beob­achten, in Daten zu stöbern, im Alltäg­lichen Inter­es­santes, Inspi­rie­rendes zu entdecken, das er auf seiner Website makinguse.com veröf­fentlicht. Der Infor­ma­ti­ons­de­signer, vormals bei frog­design als Senior Design Tech­no­logist und aktuell bei Nokia verant­wortlich für Daten­vi­su­a­li­sierung, verwandelt Unmengen von Verbrau­cherdaten in beein­druckend lebendige Daten-Stories. Diese generiert er einerseits durch eine kraftvolle meta­pho­rische Bild­sprache, ande­rerseits durch anspre­chende und verständliche Online-Tools, die es dem User ermög­lichen, Daten ohne Umschweife zu verstehen, sie in den richtigen Kontext einzu­ordnen, selbst­ständig Muster, Trends und Bezie­hungen zu erkennen. So bietet er bspw. mit dem Projekt »Un mare di…tweet« auf makinguse.com ein spezielles Tool zur Beob­achtung der aktuellen Parla­mentswahl in Italien: Twitter als Meer, Tweets als Wellen in unter­schied­lichen Ausmaßen darge­stellt, zeigen in Echtzeit Tendenzen in der Bewertung einzelner Kandidaten. Und dass Zapponi eine Menge Spaß beim Visu­a­li­sieren der Daten hatte.

Moritz Stefaner: »Think about Framing«
Der Inter­fa­ce­de­signer und selbst ernannte »trooth and beauty operator« inter­essiert sich für Infor­ma­ti­ons­äs­thetik, inter­aktive Daten­vi­su­a­li­sierung und wie das Web unsere Wahr­nehmung von Infor­mation und damit unsere Sicht der Welt verändert. Den Daten­kontext als Bezugs­rahmen einer Info­grafik hält er für die Kamera des Betrachters, die es zu hinter­fragen gilt: Welche Datensätze wurden wie ausge­wertet, welche Infor­ma­tionen wurden wegge­lassen. Stefaner arbeitet frei­schaffend für Kunden wie OECD, World Economic Forum, Skype, dpa, FIFA, und die Max Planck Gesell­schaft. Als sein »momentan span­nendstes Projekt« stellt er das Daten-Kunst-Projekt emoto vor, das Resonanz und Reak­tionen auf die Olym­pischen Spiele 2012 in London thema­tisiert. Wie schon bei Zapponis Visu­a­li­sierung »Un mare di…tweet« dient auch hier Twitter als Quelle für ein Online-Emoti­ons­ba­rometer, das Stefaner gleich­zeitig in Frage stellt: Findet hier nicht auch eine Verfäl­schung durch Date­n­auswahl statt, kann Twitter überhaupt die Welt reprä­sen­tieren? Mit seinen Projekt­partnern Drew Hemmend und Studio NAND trans­formiert Stefaner die emoto-Daten schließlich auch noch in eine drei­di­men­sionale Datens­kulptur, eine in Holz gefräste Emoti­ons­land­schaft und schafft damit nochmals eine neue Sicht der Welt.

Benjamin Wiederkehr: »Mensch als Mittelpunkt«
Wiederkehr ist Grün­dungs­partner und Geschäfts­führer von Inter­active Things , ein auf User Expe­rience Design und Daten­vi­su­a­li­sierung spezi­a­li­siertes Design- und Tech­nologie- Studio, das er 2010 in Zürich zusammen mit Christian Siegrist und Jeremy Stucki gründete. Der Inter­aktions-Designer bezeichnet sich als »human-centered« und möchte mit Daten und Fakten visuelle Geschichten erzählen. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie explizit eine Visu­a­li­sierung sein muss, um den Betrachter berühren zu können, was umgekehrt abstrakte Darstel­lungen vermitteln können, und ob Visu­a­li­sie­rungen überhaupt berühren müssen, um aussa­ge­kräftig zu sein: »Die besten Geschichten können auf einen einzigen Gedanken reduziert werden.« In seinem Projekt Ville Vivante für die Stadt Genf visu­a­lisiert er die dyna­mische Dimension der Stadt anhand digitaler Spuren, die mobile Tele­fon­ver­bin­dungen gene­rieren. Die aufge­zeichneten Ströme liefern gebündelte Hinweise auf bspw. Verkehrsstaus, Nachtleben, beliebte und belebte Plätze. Der Puls der Stadt wird animiert durch ihre Bewohner, eben human-centered.

Andreas Uebele: »Ich glaube an die Schönheit«
Der Stutt­garter Professor für Kommu­ni­ka­ti­ons­design , studierter Architekt, entwirft seit 1996 unzählige Aufmerk­samkeit erregende, vielfach ausge­zeichnete Orien­tie­rungs­systeme und ist bekannt als Autor von Büchern über Orien­tierung und Signaletik. Der humorvoll seinen Dialekt zele­brierende Schwabe gibt in einem Schnell­durchlauf Einblick in seine wich­tigsten Arbeiten und hinter die Kulissen, begleitet von Anekdoten, z.B. über den Entste­hungs­prozess der typo­gra­fischen Deckens­kulptur in der Tübinger Mensa: Der Philosoph Böhringer hatte hierfür die rätselhaft-tief­sinnigen Worte »hin und wieder aber dennoch« kreiert. Uebele verkaufte sie dem Kunden als Spie­gelung studen­tischen Laisser-Faire-Verhaltens. Böhringer fand hingegen, wie sich später herausstellte, einfach den Klang der Worte schön … Jüngst hat Uebele mit seiner – aktuell 10 Köpfe umfas­senden – »süddeutschen Raster­fraktion« für das adidas design center ein Orien­tie­rungs­system geschaffen, das aus gewohnt plakativen, raumhohen Lettern besteht, die sich durch Multi­pli­kation und Über­la­gerung scheinbar durch die Räume bewegen. Im Anschluss an den Vortrag holt er hierfür am selben Abend in München den renom­mierten if-design-Award in Gold ab.

Claudius Lazzeroni: »whothe­fuck­want­sto­kno­wall­thatshit«
Der Vortragstitel Lazzeronis kann sich allenfalls auf die bereits von mehreren Refe­renten zitierte Krise der gene­rativen Gestalter beziehen, denn seine Berichte über die Erfor­schung der »Drama­turgie des Zwischenraums« und die Vorstellung konkreter Studi­en­projekte sind außer­or­dentlich spannend. Lazzeroni ist seit 1999 Professor für Inter­fa­ce­design an der Folkwang Universität der Künste in Essen . Der Fotograf und Medi­en­de­signer war zuvor u.a. als Creative Director bei Pixelpark für Unter­nehmen wie Oetker, Langnese und Mannesmann zuständig. Mit seinen Studenten versucht er, das Erleben von Raum und Zeit hautnah wieder­zu­ent­decken, und diese Erfah­rungen in Infor­ma­ti­ons­ge­staltung zu über­setzen. So werden bspw. Klang­formen generiert und dann in Bilder übersetzt, Infor­ma­tionen auf einem täglich zurück­ge­legten Weg gesammelt, geordnet und in Form einer mehr­schichtigen visuellen Partitur darge­stellt. Fund­stücke werden von unter­schied­lichsten Orten zusam­men­ge­tragen und mit dem Klang ihres Fundortes kombiniert und ausge­stellt. Alltägliche Infor­ma­tionen werden so mit geän­derter Sicht wahr­ge­nommen, werden bedeu­tungsvoll, bieten reelle Bezüge. Das Ergebnis sind Produkte, die Infor­mation in einen anderen Kontext stellen und eine synäs­the­tische Wahr­nehmung schaffen. Oder sogar Produkte, die Verhalten verändern oder umkehren, wie eine Lampe, die man, weil sie sich immer wieder selbst ausschaltet, um Licht bitten muss. Mit der Schluss­be­merkung »Ich denke, wir machen einfach weiter« schließt Lazzeroni die Reihe der Vorträge des Typotags 2013. Von einer Krise keine Spur.

In unserer Mediathek auf YouTube können Sie 11 Video-Aufzeich­nungen zu diesem Typotag noch einmal ansehen.

Fotos: © Michael Bund­scherer (Flickr), Michael Schmidt

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