Goldener Mythos oder goldene Metapher?
Historisch gesehen wurde die Proportion des Goldenen Schnittes — ursprünglich als »göttliche Proportion« gesehen — erst im 19. Jahrhundert populär. Bekannt war sie längst (Euklid, Pacioli, Vitruv, da Vinci, Dürer). Adolf Zeising bezeichnet sie als »ästhetische Weltformel«. In der Kunstgeschichte finden sich viele Beispiele, in denen allerdings erst nachträglich eine »Proportionsstimmigkeit« eingefügt wurde. Deshalb wird auch von einer »Mystifizierung des Goldenen Schnittes« gesprochen.
1876 stellte Gustav Theodor Fechner die beliebtesten Rechteckproportionen vor. Neben dem Goldenen Schnitt mit 1 zu 1,618 waren das die Proportionen 1 zu 1,5 und 1 zu 1,414, die spätere Proportion des DIN-Formates. Der Goldene Schnitt stand also nicht allein da.
In der Buchgestaltung ist die Proportion 1: 1,5 sogar traditionell populärer (Roul M. Rosarivo, 1961). Was jedoch bezeugt, dass es mehrere Proportionssysteme gibt, die gut funktionieren. Auch in der Grafik ist der Goldene Schnitt als Analyse- und Arbeitswerkzeug sehr wohl und gut zu gebrauchen. 1963 rechnete ich das »Modulor«-System von Le Corbusier, das auf die Proportionen des Goldenen Schnitts aufgebaut ist, in die damals im grafischen Gewerbe üblichen Maßeinheiten Punkt und Cicero um und begann, damit grafische Arbeiten zu gestalten.
Erik Spiekermann schreibt, warum er den Goldenen Schnitt zum Gestalten benutzt. Das geht aber nicht weiter als die Aussage, dass es ihm Spaß macht, mit den Zahlen zu laborieren. Wolfgang Beinert reißt das Thema »Raster und Regeln« an, kommt dabei sehr schnell auf die Fibonacci-Zahlen, die erst an 13. Stelle mit dem Goldenen Schnitt übereinstimmen, und wiederlegt den Mythos, dass klassische Schriften im Goldenen Schnitt gestaltet wären.
Oliver Götze, Lieselotte Kugler (Hrg.)
Göttlich Golden Genial
Weltformel Goldener Schnitt?
224 Seiten
115 Abbildungen
178 x 230 mm
Ganzpappband
ISBN: 978-3-7774-2689-1
29,90 Euro
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