Gerda Breuers tiefer Blick unter die Oberfläche
Wenn es um die Sichtbarkeit von Frauen im Grafikdesign geht, so muss die Designgeschichte immer noch aufgearbeitet werden. Die promovierte Kunsthistorikerin Gerda Breuer hat bereits 2012 gemeinsam mit Julia Meer ein Standardwerk zu diesem Thema verfasst (Women in Graphic Design, Jovis Verlag, 2012). Mit ihrem aktuellen Band widmet sie dem Kerngebiet ihrer Forschung erneut eine zweisprachige Publikation. – Mit enormem Tiefgang.
In kräftigem Neonorange leuchtet der Buchtitel der Leser*in entgegen und schafft eine unmittelbare Assoziation zur Intention des Werkes: Dieses Buch will gesehen werden. Chronologisch und geografisch in einzelne Kapitel unterteilt, wird das Wirken von Frauen (und vor allem Frauenkollektiven) anhand von punktuellen historischen Bespielen im weiten Feld des Grafikdesigns von 1880 bis heute beleuchtet. Dem Prozess der Selbstermächtigung wird hierbei eine zentrale Rolle zugeordnet. Die Geschichte einzelner Figuren wird im Zusammenhang mit ihrem jeweiligen historischen und politischen Kontext erzählt, um so ein Verständnis für die Vernachlässigung in der Geschichtsschreibung des Grafikdesign zu vermitteln.
Der Bogen spannt sich von der Wirksamkeit der Arts and Crafts Bewegung in England und den USA, über die Wiener Werkstätte, die Suffragetten und die russische Avantgarde, das Wirken von Käthe Kollwitz bis hin zur sogenannten zweiten Welle des Feminismus in den frühen 1970er Jahren, weiter bis zur Bedeutung der Zines und zu den radikalen Aktivitäten der riot girrrls in den 1990er Jahren – um nur einige zu nennen.
Der Bezug der Design Geschichte zur arabischen Welt wird zum Beispiel ebenso beleuchtet wie die Sichtbarkeit von Women of Colour oder der Einfluss von post- und queer-feministischen Strömungen.
Zusätzlich zur ausgewählten Literatur im Anhang wird unmittelbar nach dem Ende jedes einzelnen Kapitels auf die weiterführende Literatur verwiesen – das ist für Leser*innen, die sich noch weiter in die Materie vertiefen wollen ungemein hilfreich.
In einem eigenen Teil sind ergänzend die Kurzbiografien der im Hauptteil erwähnten Protagonistinnen zu finden. Auch dieser Abschnitt ist reich bebildert mit zum Teil wunderschönen historischen Aufnahmen.
Das umfangreiche Buch soll kein reines Coffeetable Book sein, dazu liegt es mit seinem randabfallenden Schnitt zu gut in der Hand. Das Gestaltungskonzept der Kommunikationsdesignerinnen Katja Lis und Anna Voß ist eine farbige Sensation. Auf bunten Zwischenseiten werden Zitate groß und querformatig inszeniert. Das leuchtende Neonorange spielt unübersehbar die Hauptrolle. Die kräftige Farbe blitzt immer wieder als Fußnote oder Kolumnentitel hervor. Abgesehen vom Titel, der direkt auf den roh aufgesetzten Graufeinkarton gedruckt ist, ist auch das Vorsatzpapier in schwarz und leuchtendem Orange marmoriert.
Es gibt mittlerweile viele Publikationen zur Sichtbarkeit von Frauen im Design. Parallel dazu hat sich der Begriff Selfempowerment (zu deutsch: Selbstermächtigung) zu einem gängigen Narrativ des Mainstreams entwickelt. Viele Veröffentlichungen bleiben jedoch an der Oberfläche und genügen sich mit einer nur wenig hinterfragten zur Schaustellung von Frauen im Design.
Gerda Breuer jedoch wagt den Blick unter die Oberfläche und findet Antworten auf die Frage, warum Frauen bislang aus der Geschichte des Grafikdesigns ausgeklammert wurden. Ihr Anliegen, die reale Geschichte von Frauen in die Designhistoriografie zu integrieren, gelingt mit diesem reich bebilderten Band: ein unerlässlicher Beitrag zur Revision der Geschichtsschreibung von Frauen im Design.
(Barbara Lüth ist Typografin und aktiv im WEIS RAUM Designforum-Team Innsbruck).
Gerda Breuer
Her stories in Graphic Design
Hardcover
18 ´ 24 cm
352 Seiten, 300 farb. und s/w Abb.
Deutsch, Englisch
Jovis Verlag, Berlin, 2023
ISBN 978-3-86859-773-8
56 Euro
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