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Event

Voll auf die Ohren!

Martin Rasper
5. März 2011
Das tönte! In gewisser Weise stieß das Vortrags­programm der tgm im hallen­artigen Souterrain des Brandhorst-Museums in eine neue Dimension vor: Zum ersten Mal gab es Zeichen weniger zu sehen als zu hören. Schrift wurde Laut.
Fassaden-Struktur am Museum Brandhorst
Fassadenstruktur am Museum Brandhorst

Es trat auf: Valeri Scher­stjanoi, ein liebens­würdiger älterer Herr, mit dem man sofort losziehen würde, um Konfekt zu kaufen oder den Justiz­palast mit anar­chis­tischen Parolen zu verzieren. Scher­stjanoi ist ein im sowje­tischen Kasachstan geborener nord­ost­preu­ßischer Russe litauisch-ukrai­nischer Abstammung, und »fast zuhause«, nach eigenen Worten, ist er in der deutschen Sprache. Bezie­hungsweise in einer Sprache, die dem Zuhörer anfangs sehr fremd vorkommt, ihn aber zusehends in ihren Bann zieht. Scher­stjanoi nennt sie »laut­deutsch«.

Seine Gedichte haben Titel wie »Die russischen Vokale schauen sich im Spiegel an« – und klingen auch so; oder sie bestehen aus einer Litanei unter­ge­gangener ostpreu­ßischer Dorfnamen; oder sie feiern die Süßigkeit seiner Kindheit, das Fruchtgelee Rachat Lukum, mit immer wieder vari­ierten Wieder­ho­lungen des Wortes, die sich permanent steigern, bis sie in einem geradezu sinfonisch viel­schichtigen Laut­gebirge kulmi­nieren. Bei ihm wird alles Laut (nicht unbedingt laut); selbst wenn er nur die Wasser­flasche öffnet und daraus trinkt, weiß man nicht, ist das jetzt ein Gedicht oder ist es keins.

Museum Brandhorst, Theresienstraße, Munich, Germany
Museum Brandhorst

Scher­stjanoi spricht, schreit, ächzt, gurrt, schnalzt, brüllt, röchelt, stottert, jauchzt, buht, schnarrt, flötet, summt, stöhnt, ruft, gurgelt, klickt, hechelt, säuselt, zischelt, schnarcht, dröhnt, knarzt, bollert, grunzt, muht, orgelt, pfeift, schnurrt, blökt, plockert, murrt, rackert, rödelt, rummst, rumort, ramentert und macht noch viel mehr Dinge, für die es gar keine Wörter gibt bezie­hungsweise für die die Wörter erst in dem Moment entstehen, wo man die Laute in den Gehör­gängen hin- und hersausen lässt – er fluschzt, chcktickt, sietzelt, mmmhmt, schloddert, dengelt, braazt, ooht, määäht, oinkt, skrschlt, neeht, splorscht, ommmt, fltschtlt, brnnnstelt, klonkt und frmpfzlt, bis die Töne nicht mehr wissen, ob sie laut sein sollen oder luise.

Übrigens notiert er auch die Laute auch als Zeichen, kann sie wieder­holbar lesen und aussprechen; insofern ist also seine Kunst eine Art Musik mit einer von ihm entwi­ckelten Noten­schrift. Sehen, lesen und vor allem hören kann man Valeri Scher­stjanoi auf seiner wunderbaren Webseite: lautland.de.

Zwischen den Stücken von Valeri Scher­stjanoi gab es noch eine Performance des Stücks »Paper Music« von Josef Anton Riedl zu sehen, in einer sehens­werten Aufnahme des ZDF aus den frühen achtziger Jahren. Sechs Akteure machten dort, vereinfacht gesagt, Krach mit Papier – das raschelte und rappelte, klapperte und flatterte, bis die Mitwir­kenden in totaler Erschöpfung und eben­solchem Chaos von der Bühne purzelten. Warm­herziger, kräftiger Applaus des Publikums für die gesamte Veran­staltung, und der hundert­zwan­zigfache Jesus von Andy Warhol nickte huldvoll.

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