Die Sprache beim Wort genommen
Die Deutsche Bahn – ausgerechnet! – brachte den Tagungsfahrplan durcheinander: Kurt Weidemann traf verspätet im Frankfurter Museum für Post und Kommunikation (heute ohne »Post«) ein und sprach nun als dritter statt als Eröffnungsredner. Anlass war das hier vom Bundesverband Druck (noch ohne »Medien«) durchgeführte Symposium »Formulardesign«, mit Vorträgen und anschließender Preisverleihung des 8. Formular-Wettbewerbs.
Das war am 4. November 1999. Damals erlebte ich Kurt Weidemann zum ersten Mal leibhaftig. Und war seiner Sprachmacht sofort verfallen. Ein wahrer Meister im Buchstaben- und Worte-Setzen trat da auf. Nach den bilderreichen Betrachtungen der vorgezogenen Referenten kam Kurt Weidemann mit seinen grundsätzlichen Gedanken gerade recht. Er sprach »Über die Notwendigkeit und den Nutzen von grafischen Erscheinungsbildern für die Wirtschaft«. Eine Einladung an die Teilnehmer, zuzuhören, mitzudenken, zu prüfen, nach innen zu schauen – ohne jede Ablenkung durch Bilder. Botschaft an die anwesenden Gestalter: sich mit »Herz, Verstand und Kompetenz« den Aufgaben widmen.
Über zwanzig Jahre später sind seine Aussagen immer noch gültig, man darf sich ruhig immer wieder mal an sie erinnern. »Wer erfolgreich und kompetent in seinem Beruf arbeitet, sollte auch im Umgang mit Kunden, Öffentlichkeit und Medien da sein, wo man immer sein sollte: nämlich voll und ganz bei
der Sache.« Kurt Weidemann war immer bei der Sache. Auch als Mahner. So stellte er in seiner Rede zum Formulardesign fest, es gäbe einen Mangel an »Vermögensbildung«: an Seh-, Steh-, Durchhalte- und Urteilsvermögen. Es würden hier wohl entsprechende »Anlageberater« fehlen … Zur Unternehmenskultur, die immer auch Unternehmer-Kultur sei: Ein Firmenchef müsse nicht nur rechnen können, er sollte auch Philosoph sein und darüber hinaus stets klar und ehrlich Stellung beziehen. Er zitierte den »Pfennigfuchser« Robert Bosch: Es sei besser Geld zu verlieren als Vertrauen. Kurt Weidemanns Kultur-Kritik war das Glanzlicht des Symposiums. In den darauffolgenden Jahren habe ich ihn noch öfter als pointierten Redner erlebt. Er hatte immer etwas zu sagen, meistens ohne, manchmal aber auch mit Bildbegleitung. Wenngleich ich im Laufe der Zeit alle seine Bücher gelesen hatte und die grundlegende Botschaft ja gleich blieb, so habe ich es jedes Mal wieder genossen ihm zuzuhören.
Kurt war ein zugewandter, offener, hilfsbereiter Mensch. Das beim Symposium 1999 erbetene Redemanuskript händigte er mir ganz unkompliziert sofort aus, und als ich 2009 in einem Brief vorsichtig fragte, ob ich denn aus Hessen auch zum Sommerfest ins legendäre Stuttgarter Stellwerk kommen dürfe, rief er mich umgehend an und hieß mich willkommen. Dieses Fest, das draußen im Garten begann und spät abends drinnen im oberen Stockwerk am langen Tisch mit Buchschätzen, Fachsimpeln und ordentlich viel Schnaps weiterging, wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Von Kurt Weidemanns wirkmächtigem Werk soll hier nicht im Einzelnen die Rede sein, darüber gibt es einiges zu lesen. Er hat als geistreicher, ebenbürtiger Partner einflussreicher Konzernlenker Wegweisendes geschaffen, wobei es ihm nie darum ging, »originell« zu sein; vielmehr stellte er sich immer in den Dienst an der Sache, er vereinfachte, begradigte, führte zusammen, kurz: Er räumte auf im Logo- und Schriftendschungel von Unternehmen, damals, als man noch nicht so viel von Corporate Identity und Corporate Design sprach. Und stets fand er einfache, klare Lösungen für komplexe Zusammenhänge.
Er wurde geschätzt, geliebt, gefürchtet und vielfach gewürdigt. Seine Aufsätze und Bücher bleiben lesenswert. Und seine Botschaft, miteinander zu sprechen, vor allem einander zuzuhören, bleibt essenziell, gerade in Zeiten wie diesen.
Für die hundertste Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Dezember 2022 lege ich mir sein Opus Magnus »Wo der Buchstabe das Wort führt. Ansichten über Schrift und Typographie« parat, ebenso das Manuskript fürs Formular-Symposium mit seinen handschriftlichen Vermerken und auch Dietmar Hennekas fotografische Spurensuche im Stellwerk. Dann trinke ich ein paar Bierchen und einen Klaren auf Kurt – ob es Budweiser sein wird, bin ich mir allerdings noch nicht so sicher …
Unsere Buchempfehlung:
»100KW. Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Weidemann am 15. Dezember 2022«. Herausgegeben von der ›Sammlung Moser‹ mit dem ›Archiv Olaf Leu‹, in Kooperation mit der Typographischen Gesellschaft München. Mit Texten von Horst Moser, Claude Bürki, Christoph Dohse, Rüdiger Götz, Tassilo von Grolman, Klaus Klemp, Olaf Leu, Uli Mayer-Johanssen, Gertrud Nolte, Jochen Rädeker, Erik Spiekermann, Gerrit Terstiege, Jan-Peter Tripp, Silvia Werfel, Susanne Zippel, Andreas Baier, Karin und Bertram Schmidt-Friderichs.
Diese Publikation erscheint 2023 in einer kleinen Auflage als Privatdruck. Interessierte können zum Selbstkostenpreis von 15 EUR zzgl. Versand bei Horst Moser direkt per E-Mail vorbestellen.
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