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Menschen

Exzellente Typen

Horst Moser
14. Oktober 2021
Olaf Leu war Chairman des Type Directors Club of New York. Er wurde für seine gestal­te­rischen Arbeiten – neben zwei »Special Citations« 1984 und 1990 – mit 60 TDC-Awards of excellence prämiert. Anläßlich des 75-jährigen TDC-Jubiläums sprach Horst Moser mit Olaf Leu.

Die ersten deutschen Designer, die an der »typo­gra­fischen Atlan­tik­brücke« bauten, waren Kurt Weidemann und Olaf Leu. Was war für Dich der Grund, mit den Ameri­kanern Kontakt aufzu­nehmen?

Erste Anzeichen eines Interesses an anderem Design entstand 1955 während meiner Jahre bei der Bauerschen Gießerei. Die USA inter­es­sierten mich als Land, von deren Design hatte ich keine Ahnung.

Du hast immer die Ansicht vertreten, daß New York in den 50er und 60er Jahren der Design-Schmelz­tiegel par excellence war. Hitlers Macht­er­greifung war der Auslöser für die Neue Ameri­ka­nische Schule. Aus allen Ländern Europas floh man vor ihr in die USA. Bereits im ameri­ka­nischen Editorial-Design der 30er und 40er Jahre kamen die drei Russen, die das moderne Zeit­schrif­ten­design bei Vogue und Harper’s Bazaar geprägt haben: Alexey Brodovitch, Mehemed Fehmy Agha und Alexander Liberman. Im Nach­kriegs-Design entstand dann jene euro­päisch-ameri­ka­nische Gestaltung — etwas, was es vorher nie gab. Also keine Renaissance von irgen­detwas, sondern eine Revo­lution.

Mit welchen Gefühlen hast Du die Atlan­tik­brücke gebaut? Du warst Europäer und somit Teil jener Quelle, aus der in New York die Desi­gnwelt neu erfunden wurde. Hast Du als Bürger des »tausend­jährigen Reichs« so kurz nach dem Krieg Probleme mit den zahl­reichen Kollegen jüdischen Glaubens gehabt?

Über meine poli­tische Unbe­küm­mertheit schrieb 1955 der Engländer Cal Swann nach einem Studi­en­auf­enthalt in Frankfurt in der Bauerschen Gießerei: »Der Großteil der Menschen, denen ich begegnete, hatte den Krieg und das pech­schwarze Kapitel in Deut­schlands jüngster Geschichte immer im Hinterkopf. Sie hielten sich bedeckt und waren stets darauf bedacht, das negative Image der Deutschen aufzu­bessern. Daher waren sie Ausländern gegenüber fast zu ehrer­bietig. Olaf dagegen versuchte nicht, die jüngste Vergan­genheit oder die Tatsache, daß er ein Deutscher war, mit Still­schweigen zuzu­decken.«

Ich war naiv — »Naivität setzt ungeahnte Entschluß­kräfte frei« (Zitat von Kurt Weidemann) — gutgläubig, forsch. Und da die Bauersche Gießerei eine Vertretung in New York hatte, wollte ich diese besuchen. The Bauer Type Foundry in New York reichte den von mir entworfenen Neujahrs­glü­ck­wunsch – mehr eine kleine Broschüre mit dem Glück­wunschtext in mehreren Sprachen und Schriften – zum 3. Jahres­wett­bewerb des TDC ein. Er wurde mit »excellence« ausge­zeichnet. Ich habe darüber keine Urkunde bekommen, die blieb wohl in New York. Aber: Ich bekam diese, mit allen Ergeb­nissen ausge­stattete Broschüre! Das war im Frühling 1957. Und hier begegneten mir zum ersten Mal Desi­gnlö­sungen »made in USA« – und Olafs Arbeit, zwar nicht unter seinem Namen, war dabei!

Diese sichtbaren Ergebnisse lösten in mir den Impuls USA aus, zumindest ahnte ich die Möglich­keiten für mich. Diese Broschüre trug ich von besagtem Frühling bis zu meinem selb­ständigen Start im Januar 1959 mit mir herum und begann dann die Strukturen der abge­bildeten Arbeiten in meinem Design nach­zu­bilden. Meine Selb­stän­digkeit brachte nun viele Arbeiten hervor, die stark an dem angelehnt waren, was ich in der TDC-Broschüre so vorgeführt bekam.

Ich finde es inter­essant, daß man damals keine Scheu hatte, abzu­kupfern. Herb Lubalin schreibt in der Mai/Juni-Nummer von Print 1979: »Als Student stand ich unter dem Einfluß von Paul Rand. Ich sah die beste Lern­methode im Plagiat. Ich glaube, ich habe jedes einzelne Design ausge­liehen, das Paul Rand jemals entwickelt hat. Paul Rand war der Pablo Picasso der Grafik.«

Bist Du mit über­legenen oder Minder­wer­tig­keits­ge­fühlen nach New York gefahren? Warst du stau­nender Bewunderer oder selbst­be­wußter Europäer, also Ange­höriger jener Welt, die mithalf, den neuen Stil zu ermög­lichen?

Ich bin weder mit über­legenen noch mit Minder­wer­tig­keits­ge­fühlen in die USA gereist. Immerhin wurde ich ja schon einmal vom TDC ausge­zeichnet, das werde ich sehr wohl erwähnt haben, und ich hatte gerade in diesen frühen Sech­zigern schon eine ganze Reihe von frischen Arbeiten. Also, ich denke, ich war eher ein selbst­be­wußter, junger Deutscher, unver­sehrtes Kriegskind einer kriegs­ver­sehrten Nation. Keine Skrupel, auch keine Schuld­gefühle. Ich war offen, neugierig, kollegial einge­stellt, so daß die Glau­bens­rich­tungen der Kollegen anderer Nationen keine Rolle spielten. Ich denke, das strahlte ich auch aus, denn sonst hätten mich wohl die isra­e­lischen Designer 1968 nicht zu ihrem ersten Kongress eingeladen. Ich kannte keine Diskri­mi­nierung, für mich war jede Nation zuerst mal inter­essant.

Als Kurt Weidemann, den ich durch den »Druck­spiegel«, an dem ich mitge­ar­beitet habe, kannte, 1957 nach USA reiste, traf er dort Klaus F. Schmidt, den Deutschen, der seit 1951 in den USA lebte, der zusammen mit Aaron Burns 1961 das ICTA (The Inter­na­tional Center for the Typo­graphic Arts) gründete. Klaus F. Schmidt war 1963 auf ICTA-Deut­schland-Tour – so lernten wir uns kennen – und ich folgte im Oktober 1964 seiner Einladung.

Warst Du in New York Ideen-Geber oder Ideen-Empfänger?

Nun, das hält sich wohl die Waage. Den TDC oder den ADC nach Europe zu expor­tieren, das war meine Idee gewesen. Mit meinen Arbeiten (auf Dias vermittelt), konnte ich später bei meinen Besuchen im TDC so manchen kolle­gialen Beitrag leisten. Es war ein Zeigen und Empfangen.

Warum hat Dich Aaron Burns eingeladen?

Er hatte mir 1957 geschrieben. Die Empfehlung kam von Eberhard Hölscher, dem Präsi­denten des Bundes Deutscher Gebrauchs­gra­phiker und Herausgeber und Chef­re­dakteur der Zeit­schrift »Gebrauchs­graphik«. Ich begegnete Burns dann später im TDC. Durch die Vermitt­lerrolle von Klaus F. Schmidt wurde ich ihm vorge­stellt. Er war ein freund­licher, mir sehr zugetaner Kollege. Burns war überhaupt der Treiber, Klaus F. Schmidt war aktives und deutsch­spra­chiges Mitglied in seinem Team, somit die ideale Voraus­setzung für eine inter­na­tionale Zusam­me­n­arbeit.

Der Type Directors Club of New York war bei seiner Gründung eine elitäre Veran­staltung. Mitglied konnte man nur auf Empfehlung werden. Heute wird jeder, der den Aufnah­meantrag ausfüllt und den Mitglieds­beitrag bezahlt, aufge­nommen. Der Wandel hatte ja nichts mit dem heutigen Gleich­ma­cherei- und Quoten-Terror und der Eliten-Despektion zu tun. Was war der Grund für die Öffnung?

Von außen gesehen, entstand der Eindruck einer Elite. Dem muß ich allerdings wider­sprechen. Es waren Tätige, Inter­es­sierte, letztlich Kollegen, die sich hier fanden. Nicht jeder war prominent, erst 1955 mit der Gründung eines Wett­bewerbs kamen die Promi­nenten, von denen viele später auch zu Mitgliedern wurden. Man kann die Gründung eines Clubs – vorwiegend für Ange­hörige der in der Madison Avenue resi­die­renden Werbe­agenturen – aus heutiger Sicht als eine gelungene Marke­ting­maßnahme der damals schon gewichtigen und einfluß­reichen Layout­set­zereien bezeichnen. Man versammelte seine Kunden, die tagaus, tagein ihre Bestel­lungen aufgaben. So wie bei der führenden Layout- bzw. Foto­setzerei »Photo-Lettering«, quasi ein Repro­betrieb, dessen Inhaber Ed Ronthaler hieß, der noch als Hundert­jähriger die Club­meetings besuchte.

Man brachte ein Schrift­angebot in Tele­fon­buch­stärke unter seine Kunden. Sicher ist Ed Ronthaler einer der Ziehväter der Idee eines Clubs, denn er kannte und versammelte seine Kunden, indem er ihnen eine Heimat gab. Eine weitere Marke­ting­maßnahme war die der Galerien. Dazu dienten die Vestibüle, die Vorräume, die mit Ausstel­lungs­wänden bestückt wurden, als meeting point für gele­gentliche Empfänge, sprich Ausstel­lungs­er­öff­nungen. Auch dies waren Heimaten, Treff­punkte für Kunden, aber auch Nicht­kunden der Szene. All diese Akti­vitäten schufen eine, an Schriften und ihrer Anwendung inter­es­sierte Gemeinde. So war dann die Idee, daraus auch einen Club zu gründen, nur noch ein kleiner Sprung.

Und diese Gemeinde war zwar keine Elite, aber ein relativ kleiner Kreis.

Man kannte sich, man sprach miteinander, man hatte dieselben Beweg­gründe, man versuchte sich einig zu werden. Dieses Miteinander, nun in eine Clubform gegossen, erzeugte eine Limi­tierung des Kreises. Man wollte wissen, auf wessen Enga­gement in der Sache man bauen konnte, also waren Empfeh­lungen, Paten­schaften, wer dafür geeignet und akzeptiert werden könnte, Usus. Zumindest in den ersten 20 Jahren.

Man bedenke die Tatsache, daß der Type Directors Club in seiner ersten Dekade ein rein lokaler, auf lokal beschränkten Verbin­dungen basie­render, personell auf wenige Personen, beschränkter Club war. Es war nichts anderes als was man heute mit einem Stammtisch bezeichnet. Und wer hier geladen war, der mußte bekannt sein, um akzeptiert zu werden. Die erste Dekade des TDC galt der »Education«, Seminare und Vorträge über die Materie Schrift und Design, ein ambi­tio­niertes, äußerst aktives Programm und dieses hielt den Club in seinem selbst­ge­stellten Auftrag überhaupt zusammen. Ansonsten wäre es bei einem Debat­tierclub geblieben, Modell Stammtisch.

Zu der Zeit gab es noch keine Wett­bewerbe?

1955 wurde clubintern ein Wett­bewerb veran­staltet. Man sollte eigene Arbeiten einreichen und die Ergebnisse einer Jury wurden per Dia an die Wand geworfen. Daraus wurde dann 1956 der zweite – jetzt öffentlich ausge­schriebene – Wett­bewerb, die Geburts­stunde der Type Directors Show. Mit dem Wett­bewerb hatte man bewußt oder unbewußt eine neue Ära einge­leitet, denn plötzlich wurden aus der reinen Theorie der »Education« sichtbare Ergebnisse. Und zudem nicht nur von einer bislang kleinen Mitglied­schaft, sondern auch von vielen Einsendern außerhalb von New York. Damit wuchs auch die Mitglie­derzahl, und hier kam, aufgrund der jetzt sichtbaren Ergebnisse, auch der Gedanke der Elite auf. Das Prinzip der Empfeh­lungen, der Paten­schaften, für eine Mitglied­schaft wurde in dieser Phase noch beibe­halten.

Obwohl auch außerhalb von New York Einrei­chungen möglich waren, blieb der Club auf die USA beschränkt?

Der Wett­bewerb war in den ersten Jahren auf Einsen­dungen ausschließlich ameri­ka­nischer Autoren beschränkt. Eine Lockerung, auch Einsen­dungen außerhalb der USA zuzu­lassen, war erst 1965 zu verzeichnen und nur für akzep­tierte Mitglieder. Damit hatte man bewußt oder unbewußt die Büchse der Pandora geöffnet. Denn jetzt wollten Kreative aus Nah und Fern Mitglied im TDC werden, denn das war von außen gesehen, die Elite.

Bis 1990 war meines Wissens die Mitglied­schaft limitiert. So wie beim Art Directors Club. Danach wurde, übrigens bei beiden dieser Clubs, diese Limi­tierung aufgehoben. Jetzt diente man nicht einer Idee, sondern der Clubkasse. Und die füllte sich, dank des Gedankens, jetzt einer Elite anzu­gehören. Nicht die Akzeptanz eines Werkes, nein – eine Unter­schrift unter ein Antrags­formular genügte.

Wann bist Du im TDC aufge­nommen worden?

Das war 1965. Der TDC war, wie erwähnt, ein lokaler Club, der seine wöchent­lichen Mittagessen im gemieteten Neben­zimmer des Roger-Smith-Hotels nahe Grand Central Station abhielt. 1964 als damals 28-jähriger erkannte ich die Chance den TDC aus seinem bisherigen, auf die USA beschränkten, Umfeld heraus­zulösen und ihn inter­na­tional wirken zu lassen. Durch Fürsprache des uner­müd­lichen Aaron Burns und Klaus F. Schmidt gab man die Show – es war die elfte – erstmals für den Export außerhalb der USA frei.

Damit kam es dann zur erwähnten Öffnung der Büchse der Pandora. Denn Eifersucht, Ehrgeiz, Gerangel ›»Wer-denn-nun-Elite-sei«, erhielt unge­hemmten Auftrieb. Unter Jerry Singleton, einem Sekretär in Gestalt einer Sekre­tärsfigur aus einem Fritz-Lang-Film, war der TDC ein – nach wie vor – großer New Yorker Schrift-Stammtisch, wo man sich austauschte. Gemütlich, kollegial, mit all den Einla­dungs­druck­sachen, wenn ich dort auftrat.

Der Wett­bewerb passte eigentlich nicht in das bislang gepflegte Ambiente, das nach wie vor, und später noch viel mehr, aus den freund­lichen »Hellos-how-are-you« unter Kollegen bestand. Plötzlich mußten Juroren benannt werden, sieben an der Zahl, und ab und zu ein Ausländer. Die Juries kamen damals aus dem Club­ver­zeichnis.

Du hast mir die ersten 25 Jahres­bro­schüren (Bild 3, 4) aus deinem »Nachlaß zu Lebzeiten« übergeben. Sie sind in der Sammlung Moser, Unter­ab­teilung »Olaf Leu Collection« archiviert. In diesen Jahres­bro­schüren wurden die Mitglie­der­listen veröf­fentlicht.

Richtig! Und plötzlich gabs eine Kasse: Einsen­de­ge­bühren und Veröf­fent­li­chungs­ge­bühren. Als dann immer mehr dem TDC beitreten und mit am Tisch der Elite sitzen wollten, gab’s zwar noch die Empfeh­lungen und Paten­schaften, aber die Wenigsten konnten am täglichen Leben des TDC in New York real teil­nehmen. Insofern eine Nonsens-Mitglied­schaft, aber die Eitelkeit und der Ehrgeiz, unbedingt dazu­zu­gehören, war nicht mehr zu bremsen.

Würde das Nobelpreis-Komitee Mitglieder aufnehmen – was sie Gott­seidank weder tun noch erwägen – wäre auch hier der Zustrom immens. Singleton starb und Carol Wahler, eine bisherige Immo­bi­li­en­ver­walterin, kam zum Zug. Und sie verwaltete die beste­henden Einheiten. Von »Education« und Seminaren, einer idea­lis­tischen Form, war nichts mehr – oder kaum noch etwas – vorhanden. Carol war (und ist) Geschäftsfrau und der Wett­bewerb war pure Kohle. Und da der Hunger nach »certi­ficates for excellence« immer größer wurde, zudem dann jegliche Mitglied­schaft möglich wurde, wurde das die Cash-Cow. Carol befriedigte die Nachfrage. Das tat sie, größere Einheiten wie Häuser gewohnt, sehr clever und die zwei­jährigen, regel­mäßigen Wach­wechsel des Vorstands ließen immer weniger Erfolg und Stringenz einst­maliger, unver­wech­selbarer Identity zu.

Der Club, ursprünglich voller Ideale, hat die Säku­la­ri­sierung unserer Zeit nicht über­standen. Das Innere wurde ausgeräumt. Was stehen blieb, ist die äußere Gestalt einer ange­sehenen, auf histo­rischem Kapital basie­renden, Adresse.

Nach den Broschüren kamen die Annuals in Buchform.

Bis 1979 wurden die Wett­be­w­erb­s­er­gebnisse in schwarz-weiß gedruckten Broschüren doku­mentiert. Es sind jene 25 Broschüren, die Du erwähnt hast. Danach wurden die Ergebnisse zu einem Verlags­objekt in Buchform. Man begann mit der Ziffer eins. Eigentlich war es die 26. Folge. Die Verlage wech­selten, zumal hohe Auflagen im Verkauf nicht erreicht wurden. Irgendwann war es dann soweit, daß kein ameri­ka­nischer Verlag mehr das Risiko einer Herausgabe wagen wollte. So wurde in letzter Sekunde der deutsche Verlag Hermann Schmidt aus Mainz zum rettenden Hafen. In den USA vorla­genmäßig geschaffen, in Asien gedruckt und schließlich in Mainz verlegt.

War die jährlich beauf­tragte Jury, deren Zahl konstant bei sieben Mitgliedern blieb, in den ersten Jahren meist von promi­nenten Namen geprägt, verlor sich das mehr und mehr. Prominenz spielte keine Rolle mehr, die Namen kannte eh keiner, so daß sieben, in jedem Jahr wech­selnde Juroren ihren Zeit­ge­schmack an den zum Wett­bewerb einge­reichten Arbeiten doku­men­tieren konnten. In jedem Jahr entstand ein Kalei­doskop der unter­schied­lichsten Ausfor­mungen, an denen nur noch das Diktum Main­stream fest­gemacht werden konnte. Das Bullerbü des inter­na­ti­onalen Grafik-Designs. Ein Vorla­genbuch für alle am Mac Tätigen around the world — vergleichsweise Burdas Schnitt­mus­ter­vorlagen für die moderne Frau.

Der TDC nur noch Denkmal, wie das Empire State Building, eine Ikone. Das mag der uner­bittliche Lauf der Zeit sein. Der TDC in seinen ersten Jahren hatte jenen Zauber, der sprich­wörtlich jedem Anfang innewohnt.

Ich war selten in Juries, weil ich wegen schlechter Erfah­rungen nicht teil­nehmen wollte. Der Grund lag darin, daß es keine Bewer­tungs­kri­terien gab. Geht es um Inno­vation, Vermitt­lungs­qualität, Origi­nalität, Radi­kalität usw.? Oder ist der indi­vi­duelle Geschmack eines Jury­mit­glieds entscheidend? Wie kann man solche Fehl­ent­wick­lungen vermeiden? Wie sollen Juries zusam­men­gesetzt werden?

Ein Schieds­richter der FIFA muß 300 Regeln im Kopf haben, also muß er trainiert und ausge­bildet sein, ehe er Spiele richten darf. Und kann. In unserer Branche – weil weiche Masse – gibt es diese Regeln nur in ganz speziellen Wett­be­werben. Da wären die »50 Schönsten Bücher der BRD«, schon 1950 mit einem präzisen Regel­katalog der Bewer­tungs­kri­terien ausge­stattet. Das sollte einmalig bleiben.

Einspruch, Herr Professor! Auf meine Frage an die lang­jährige Leiterin dieses Wett­bewerbs, warum es so große Unter­schiede in der Bewertung beim deutschen und euro­pä­ischen Wett­bewerb gäbe, obwohl – wie Du sagst – die Kriterien so ausge­tüftelt sind, antwortete sie, daß das ja das schöne sei, daß die eine Jury das gleiche Buch zum Sieger kürt und die andere das gleiche Buch bereits in der Vorrunde aussortiert.

Ich fand diesen Wett­bewerb immer frag­würdig, obwohl ich auch Preise für Bücher, die Verlage für mich einge­reicht hatten, gewonnen habe. Es herrscht eine absurde ideo­lo­gische Verherr­lichung der Manu­faktur. Das Kleine, das Studen­tische, das »liebevoll« selbst­­ge­bastelte Lese­bändchen als Ideal.

Trotzdem habe ich mir die »Bücher­regeln« zum Vorbild genommen, als ich 1995 vor der Frage stand, Kriterien für die Beur­teilung von Annual Reports aufzu­stellen. Auch die Jahres­ka­lender im Gebrauchs­graphik/novum-Jahres­wett­bewerb wurden zumindest in Anfor­derungs-Segmente geteilt, jedes Segment einzeln aufgerufen bzw. bewertet. Das funk­tioniert dort eini­germaßen beschwer­defrei, wo es sich um eine einzige Materie handelt, also Reports, Bücher, Kalender, Flaschen. Hier ist das Fach­wissen eines Jurors gefragt und das einzige Kriterium ist, die Jury so zusam­men­zu­stellen.

Da versagen die meisten Veran­stalter, weil sie zu faul oder beim Auffinden von geeigneten Personen im Spezl-Denken gefangen sind. Wo ein Regel­katalog nicht funk­tioniert, ist bei der Viel­falt einge­sandter Medien in Jahres­wett­be­werben. Das alles ist zu unter­schiedlich und nicht über einen Kamm zu scheren. Hier ist der Prominente mit der meisten Erfahrung, Weitsicht und Haltung gefragt.

Nach diesem Prinzip waren die ersten TDC-Juries besetzt. Man legte Wert auf Namen. Ein TDC-Juror mußte aufgrund seiner Prominenz, wo auch immer die herkam, dieser Schieds­­richter in FIFA-Qualität sein. Denn er wußte um Inno­vation, Vermitt­lungs­­qualität, Origi­nalität aufgrund seiner Erfah­rungen und seiner Arbeiten! Er erkannte Doubletten, dieses Wischi-Waschi-Design. Der TDC nahm sich Personen, die schon gezeigt hatten, was sie konnten. Ich war im 18. und 30. Jahres­­wett­bewerb des TDC Juror. Durfte auch ein TDC-Jahr­buch gestalten.

Cover der ersten TDC-Broschüren
Auswahl aus der Sammlung der ersten 25 Jahres-Broschüren des Type Directors Club of New York.

Der blaue Rücken beißt sich zwar etwas mit dem rost­fa­rbigen Cover, anyway … Gab es Unter­schiede zwischen deutschen und ameri­ka­nischen Juries?

Das besondere, das unge­wöhnliche – für mich als gesprächs­be­reiten Deutschen – war diese ameri­ka­nische Art zu jurieren. Nämlich lautlos! Ohne sich mit seinem Kollegen über eine Arbeit zu unter­halten, abzu­stimmen. Das ging gar nicht. Du bliebst mit deinem Urteil allein indem du einen Chip in das Sammelgefäß stecktest.

So war es auch beim ADC, der per Klick — yes or no — eine Arbeit, Filme, auf der Leinwand vorstellte, ohne Kommentar, dann Auffor­derung zum Klick, ein Handgerät, das jeder Juror bekam. Immer wurde dein Urteil gefragt, aber ohne Berührung mit anderen Meinungen! Eine gerade zu teuf­lische Verant­wortung tut sich da auf.

Anders in Old Germany. Die hatten eben immer gern ihren Napoleon. Das war Günter Gerhard Lange genauso wie Kurt Weidemann – und bei den ADC-Leuten waren es die Vorstände. Es wurde immer Politik im Vorfeld und vor einer Abstimmung gemacht. So in Stuttgart bei den Inter­na­ti­onalen Kalendern oder beim DDC, der zwar Spezi­al­juries, Segmente betreffend, einsetzte – aber das Ergebnis geschah immer in Abstimmung mit allen Betei­ligten, nach teilweise sehr inter­es­santen Rede­bei­trägen. Also, der Knuff in die Seite des Kollegen, sich meinem Urteil anzu­schließen … naja, manche tun sich schwer darin, eine Meinung zu bilden.

Die TDC-Juries waren sicher auch nicht frei von persön­lichen Vorlieben.

Da keine ausge­sprochene Prominenz mehr greifbar war – viel­leicht schon in Rente oder als Juror verbraucht – beauftragt man jetzt Personen aus der Szene, die bislang brav ihre Arbeit taten, nie auffielen — und heut­zutage schon gar nicht mehr. Und diese Vorlieben ohne Gesamt­konzept kommen dann deutlich zum Tragen. Hier ist dieses lautlose Prinzip geradezu Gift, denn keiner schreit »Stop«, jeder steckt seinen Chip in seine Lieb­haberei! Ohne Gegenwehr! Davon zeugen diese Bücher. »Bullerbü« habe ich sie genannt.

Vor fünf Jahren lautete Dein Befund über die Arbeitsweise der Gestalter: »Man glotzt auf eine beleuchtete Scheibe, daneben liegen – mit Post-its versehen – die neuesten Vorla­gen­bücher, die Jahr­bücher des ADC of NY, des TDC of NY, dazu einige englische und ameri­ka­nische Szene­ma­gazine.«

Heute sind es die Bilder­samm­lungen der digitalen Spei­cher­häuser Instagram, Pinterest etc. Haben die Annuals nicht dazu verführt, alles abzu­kupfern, sich gedanklich mit einem Thema nicht ausein­an­der­zu­setzen, sondern vorge­fertigte Lösungen zu über­nehmen? Hat diese Orien­tierung an den besten Beispielen das Niveau insgesamt erhöht oder nicht? Muß man den Einheitsbrei der Imitatoren und Follower beklagen?

Was machen die, die so verschieden, schlecht, mittel­mässig, gut, sehr gut ausge­bildet wurden, jetzt mit dem, was sie scheinbar gelernt/kennen­gelernt haben? Sie pausen ab. Müssen abpausen! Denn der Speicher ist entweder ein bissle voll oder immer noch leer. Das muß erst noch heran­wachsen. Bei dieser jetzigen Ausbildung, bleibt denen gar nichts anderes übrig! Woher sollens die denn haben? Also, dann mal kräftig in Vorla­gen­li­teratur investiert. Alle Verlage haben sich auf diese Bedürfnisse einge­richtet.

Ich bin immer von der Theorie ausge­gangen und kann sie immer und immer wieder nur wiederholen: Gute Arbeiten sind Einzel­stücke, die einmalig sind und bleiben. Es ist aber reizvoll, sie nach­zuahmen. Und bei dieser unauf­hör­lichen Massierung des Berufes ist das Nach­machen geradezu vorgesehen, denn anders fände diese Masse nie Zugang in den Main­stream! Also: keine Lösung des Abkupferns in Sicht, das gehört inzwischen zum guten Ton …

1989 hast Du aus den prämierten Typo-Arbeiten der ersten 40 Jahre des TDC einen Extrakt der »aller­besten« Arbeiten ausgewählt und in einem Katalog vorge­stellt. Ein paar dieser Besten-aller-Zeiten-Designs hast du im drei­di­men­si­onalen Linotype-Magazin nochmal versammelt. Wenn man diese Best­leis­tungen heute betrachtet, fällt auf, daß man der von Dir so bezeichneten Kategorie »Seman­tische Typo­grafie« die meisten Beispiele zuordnen kann. Eine bekannte Arbeit ist Tango von Oswaldo Miranda. Das »A« besteht aus einem Tango-tanzenden Paar. Diese Methode ist tausendfach kopiert worden. Die Inflation der Kopien erzeugt letztlich Banalität und mindert womöglich auch die ursprüngliche Kreation. Muß man sich vor Rezepten dieser Art hüten?

Diese einmaligen Wort­bilder — ob von Miranda oder von Lubalin — waren die Sahne­stücke einer Entwicklung, die auf die Sechziger- und Sieb­zi­gerjahre beschränkt blieb. Sie waren in ihrer Idee des Werk­stücks einmalig, aber reizten zum Nach­machen. Ich habe sie als Beispiele in der damaligen Linotype-Show zur Geltung gebracht. Ob einmalige Werk­stücke Rezepte darstellen? In gewisser Weise schon, aber das Gesehene reizt immer zur Wieder­holung. Vorbilder haben immer eine rezeptive Wirkung.

Unter den Auszeich­nungen findet man keine schlichte typo­gra­fische Buch-Doppelseite. Paul Renner hat sich mit diesem Thema sehr eingehend beschäftigt. Meis­ter­schaft in dieser nuan­cen­reichen Disziplin kann kein Laie erreichen, wohingegen der Ent­werfer des prämierten Schrift­zugs Soli­darność von 1981 als anonym bezeichnet wird.

Soli­darność kam durch meine Initiative als Einsendung zum Wett­bewerb. Allerdings sollte und konnte der Entwerfer – ausschließlich aus poli­tischen Gründen – nicht genannt werden. Leider ist das nie berichtigt worden. Der Type Directors Club und sein Wirken entstand im und aus dem Umfeld der Werbe­agenturen. Bücher und deren grafische Aufbe­reitung waren nicht im Zielfeld der Werbung. Für Bücher gab es wie in Deut­schland einen eigenen Wett­bewerb. Generell: Unter Typo­graphy und den beim TDC publi­zierten Lösungen handelt es sich um Kommu­ni­ka­ti­ons­design oder Grafik­design und nicht um Typo­grafie in engerem Sinn. Insofern ist die ameri­ka­nische Bezeichnung »typo­graphy« grenz­wertig.

Generell: Daß Werber ihr Tun als Kommu­ni­ka­ti­ons­­­design bezeichnen, ist absurd. Der Begriff »Kommu­ni­ka­ti­ons­design« für alle Varianten der Gestaltung ist falsch. Kommu­ni­kation findet zwischen zwei oder mehreren Menschen (neuerdings auch zwischen Maschinen) statt. Es handelt sich um Infor­ma­ti­ons­aus­tausch. Aus dem einseitigen Senden von Botschaften kann wech­sel­­seitige Kommu­ni­kation entstehen. Aber zunächst gibt es einen Absender, der mit seiner Bot­­schaft gehört oder gesehen werden möchte. Bei der Werbung wäre Propaganda oder Reklame nach wie vor der korrektere Ausdruck. Daß mir beim Wort »Propaganda« immer gleich die Dylan-Zeile »Propaganda, all is phony« einfällt – das nur nebenbei.

Noch ein letzter Punkt: Du hast mal erwähnt, daß die TDC-Original-Arbeiten noch erhalten sind.

Ich habe das Material aus den umfang­reichen Samm­lungen des Type Directors Clubs in die Obhut des Deutschen Plakat Museums in Essen gegeben. Aber die Muse­ums­leitung kommt ihrem ursprüng­lichen Auftrag und der Verpflichtung nicht nach. Es gibt keinen Vermerk der Archi­vierung, die Sammlung bleibt unerwähnt. Diese Verschlu­derung ist ein Skandal!

TDC-Ehrentafel für Olaf Leu
»Galvano« vom Type Directors Club of New York an Olaf Leu zu seinem Abschied im Jahr 1990.

Anmerkung der Redaktion:

Die Schreibweise dieses Textes wurde vom Autor bewußt so gewählt — »naturbelassen, unbehandelt, frei von Giftstoffen« — und von uns nicht geändert.